Russland führt einen verlustreichen Krieg. Das Land ist durch Sanktionen von einem Großteil der Weltwirtschaft und der Finanzmärkte abgeschnitten, dennoch heißt es, die russische Wirtschaft würde dieses Jahr deutlich wachsen. Ist solchen Zahlen und Prognosen zu trauen?
VASILY ASTROV: Insgesamt ja. Die russische Wirtschaft zeigt eine wirklich beeindruckende Entwicklung. Sie hat sich nach einer leichten Rezession im vergangenen Jahr erholt und erstaunlich schnell an die Sanktionen angepasst. Dabei ist die Dynamik in den unterschiedlichen Sektoren der Wirtschaft allerdings sehr unterschiedlich.
In welchen Bereichen läuft es denn gut?
In allen den Bereichen, die direkt oder indirekt mit der Kriegsführung zu tun haben. Das ist nicht nur die Waffenproduktion, die auf Hochtouren läuft. Auch die russische Textilindustrie etwa und die Lebensmittelproduktion profitieren. Weiter haben die Sanktionen Substitutionseffekte ausgelöst. Waren, die nicht mehr aus dem Westen importiert werden können, werden vor allem zwar durch Einfuhren aus China und anderen Ländern ersetzt, teilweise aber auch durch inländische Produkte. Der Inlandstourismus beispielsweise boomt. Denn Reisen unter anderem nach Europa sind kaum noch möglich.
In welchen Bereichen der Wirtschaft gibt es Probleme?
Da ist an erster Stelle der Öl- und Gasexport zu nennen. Sein Öl verkauft Russland nun statt nach Europa hauptsächlich nach Asien, allerdings zu geringeren Preisen. Beim Gas ist es schwieriger, Alternativen zu finden, da es großteils über Pipelines exportiert wird. Insgesamt hat Russland rund ein Drittel seiner Exporterlöse verloren, vor allem aufgrund geringerer Energieexporte. Das bedeutet für den Staatshaushalt einen Rückgang der Steuereinnahmen aus diesem Bereich um etwa die Hälfte.
Wie wirken die Handelssanktionen darüber hinaus?
Sehr unterschiedlich. Einige Konsumgüter, die vor dem Krieg aus dem Westen importiert wurden, kommen weiter über Drittländer ins Land. iPhones beispielsweise, die Apple nicht mehr direkt in Russland vertreibt, kaufen russische Unternehmen in anderen Ländern, um sie dann in Russland weiterzuverkaufen - allerdings sind diese Produkte dann natürlich deutlich teurer. Andere Waren werden durch alternative Produkte etwa aus China ersetzt. Das ist zum Beispiel bei Autos zu beobachten. Gravierender sind die Sanktionen beim Import von Investitionsgütern. Hightech-Komponenten aus dem Westen etwa für Telekommunikationsausrüstung lassen sich nicht immer durch chinesische Produkte ersetzen. Und bei einer riesigen Gasturbine für ein Kraftwerk kann ich auch beim Import über ein Drittland kaum verschleiern, dass das Zielland Russland ist.
Was bedeutet das alles für die russische Bevölkerung? Wächst mit der Wirtschaftsleistung auch deren Wohlstand trotz Krieg und Sanktionen?
Auch da muss man differenzieren. Die Mittelklasse spürt die Sanktionen durchaus. Die haben vor dem Krieg in Europa Urlaub gemacht und westliche Markenwaren gekauft, die nun nicht mehr oder nur noch eingeschränkt verfügbar sind. Die ärmeren Schichten spüren dagegen, zumindest wirtschaftlich, positive Auswirkungen. Die Reallöhne, das heißt, auch nach Abzug der Inflation, steigen deutlich. Denn Krieg und Sanktionen haben zu einem großen Arbeitskräftemangel geführt, was Unternehmen zwingt, Mitarbeiter besser zu bezahlen. Wirtschaftlich schwache Regionen profitieren zudem finanziell davon, dass viele Männer zur Armee gehen. Denn das Militär zahlt einen im Vergleich zum normalen Einkommen in diesen Regionen sehr guten Sold. Das alles führt dazu, dass sich der private Konsum in Russland nach einem kurzen Einbruch zu Beginn des Kriegs schnell wieder erholt hat.
Vor allem für Beobachter im Westen ist diese Wirtschaftsentwicklung in Russland überraschend. Wo liegt der Denkfehler? Was war die entscheidende Fehleinschätzung?
Das sind wohl mehrere Aspekte, die falsch eingeschätzt wurden. Zum einen hatte man wohl im Westen nicht damit gerechnet, dass ein Großteil der Länder die Sanktionen nicht mitträgt. Dass China da nicht mitmacht, war wohl klar. Aber bei Indien, Brasilien und anderen Schwellenländern hatte man wohl auf mehr Kooperation gehofft. Und tatsächlich ist es ja so, dass selbst mit der Türkei sogar ein NATO-Staat sich an den Sanktionen nicht beteiligt, sondern seinen Handel mit Russland intensiviert. Daneben ist es wohl so, dass man die Anpassungsfähigkeit der russischen Wirtschaft im Vergleich zu Ländern, die ähnlichen Sanktionen ausgesetzt waren, unterschätzt hat. Russland ist einfach viel größer und wirtschaftlich weiterentwickelt als der Iran, Venezuela oder Nordkorea. Die russische Wirtschaft besitzt daher mehr interne Wachstumsquellen und Möglichkeiten zur Diversifikation. Die russische Wirtschaft ist nicht mit der sowjetischen zu vergleichen. Russland ist eine echte Marktwirtschaft. Der Unternehmergeist vor allem der kleinen und mittelständischen Unternehmen hat es möglich gemacht, vergleichsweise schnell alternative Lieferketten für viele sanktionierte Lieferketten aufzubauen. Und nicht zuletzt hat sich der russische Staat spätestens seit 2014 auf mögliche Sanktionen vorbereitet. Er hat beispielsweise Währungs- und Finanzreserven angelegt und die Verschuldung zurückgefahren.
Die gute Wirtschaftsentwicklung beruht offenbar unter anderem auf diesen Reserven und der Möglichkeit des russischen Staates, seine Ausgaben für den Krieg zu erhöhen, obwohl ihm ein erheblicher Teil seiner Einnahmen weggebrochen ist. Ist das nachhaltig? Wie lange kann Russland das durchhalten?
Das Haushaltsdefizit sollte der russischen Regierung mittelfristig Sorgen bereiten. Die Reserven, etwa das Vermögen des russischen Staatsfonds, sind endlich. Der Staat kann bei heimischen Banken Schulden aufnehmen, die Zinsen dafür sind aber hoch, zuletzt bei rund elf Prozent. Langfristig, nach einigen Jahren, dürfte die Situation also schwieriger werden. Aber auch das bedeutet nicht, dass dann ein Zusammenbruch der russischen Wirtschaft zu erwarten wäre.
Das heißt, die Idee, Russland durch Sanktionen zur Beendigung des Kriegs zu zwingen, ist gescheitert?
Ja, insgesamt sind die Sanktionen weitgehend gescheitert. Das Einzige, was Russland bislang wirklich geschadet hat, war das europäische Importembargo für Öl. Auch die Beschränkungen für die Lieferung bestimmter Hightech-Investitionsgüter könnten dazu führen, dass Russland langfristig technologisch abgehängt wird. Aber das reicht bei Weitem nicht aus, um Putin zum Einlenken zu bringen.
Das Interview ist zuerst bei ntv.de erschienen