Capital: Herr Krisch, am heutigen Freitag könnten Delivery Hero und Hellofresh aus dem Dax fallen. Generell herrscht Krisenstimmung im E-Commerce. Was bedeutet der mögliche Abstieg für das Geschäftsmodell der Lieferdienste und für die gesamte Digitalbranche?
JOCHEN KRISCH: Ich glaube nicht, dass der Dax irgendeinen Effekt auf das Geschäftsmodell hat – weder im positiven noch im negativen. So ein Abstieg ist natürlich für die Wahrnehmung wichtig und vielleicht auch für die finanziellen Möglichkeiten. Aber ich würde nicht sagen, dass es einen Einfluss auf das Geschäft hat.
Seit Jahresbeginn sind so gut wie alle E-Commerce-Werte eingebrochen – seien es die Kurse von Zalando, Delivery Hero oder auch von Hellofresh. Gleichzeitig lobt Goldman Sachs die guten Rahmenbedingungen in der Branche. Das klingt paradox. Was stimmt denn nun?
Wenn man rein auf die Börsenbewertung schaut, dann sieht es natürlich düster aus. Ich schaue aber ganz gerne auf die Geschäftszahlen und deren Entwicklung. Wenn ich das tue, stelle ich fest: So wie es während der Corona-Hochphase Übertreibungen nach oben gab, gibt es jetzt Übertreibungen nach unten. Ich finde die Wahrnehmungen der Börse viel ausgeprägter als es die Zahlen hergeben – gerade bei Zalando und Hellofresh. Vom Umsatzniveau und auch von der Profitabilität stehen die immer noch auf einem Niveau, das ihnen wohl niemand zugetraut hätte. Deswegen ist der Börsenfaktor für mich auch eher nachrangig. Unter Strategiegesichtspunkten und vom Marktpotenzial her ist mir bei diesen Unternehmen nicht bange.
Und was ist mit Delivery Hero?
Das ist immer der schwierigste Wert von den Dreien, weil Delivery Hero auch eher ein M&A-Business ist – und zudem weniger im fundamental klassischen E-Commerce mitmischt als zum Beispiel Hellofresh oder Zalando.
Funktioniert denn das radikale Wachstumsmodell von Delivery Hero noch angesichts steigender Zinsen und Inflation?
Ja, weil der Markt noch nicht durch ist. Bei Delivery Hero stellt sich die Frage, wie weit man es treiben kann mit der Übernahmestrategie und ob man nicht vielleicht auch irgendwann Farbe bekennen muss. Im M&A-Geschäft geht es dann natürlich schon auch um die Bewertung. Es funktioniert dann am besten, wenn die Bewertung hoch ist und Delivery Hero sich günstig Anteile an anderen Unternehmen kaufen kann. Von daher trifft der Börsenverfall Delivery Hero sicherlich härter als andere.
Kurz gesagt: Delivery Hero hat es schwerer als zum Beispiel Hellofresh?
Ich finde schon, wobei das für mich zwei sehr gegensätzliche Modelle sind. Die haben beide was für sich, aber ich schätze Hellofresh wesentlich substanzieller ein. Das haben sie in der Krise jetzt gezeigt, da haben sie so gut abgeschnitten wie eigentlich keiner aus ihrem Segment und haben jetzt sehr viel Spielraum. Delivery Hero dagegen ist mehr als zehn Jahre alt, aber immer noch in einer Art Start-up-Wachstumsmodus unterwegs, wo Wachstum vor Profitabilität geht. Die Frage ist, wie lange man das machen will – und kann.
Dazu passt eine Meldung aus der Vorwoche: Da hat Gorillas angekündigt, fast die Hälfte seiner Mitarbeiter zu kündigen. Angeblich haben Investoren gefordert, dass Gorillas schnellstmöglich profitabel werden muss. Ist das, also das Hinwirken auf Profitabilität, etwas, das wir in der gesamten Branche sehen?
Ja, also bei den sehr wachstumsstarken und kapitalgetriebenen Unternehmen sehen wir das definitiv. Da sind die Investoren nicht mehr bereit, große marketingintensive Projekte zu unterstützen. Bei den anderen hat das einen eher nachgelagerten Effekt. Da beobachten wir das auch, aber da gibt es nicht so eine große Not. Der Kapitalbedarf bei einem typischen Onlinehändler ist eigentlich erheblicher geringer als bei diesen extrem gepushten Modellen wie Gorillas, Flink und so weiter. Aber wie gesagt: Das sind andere Modelle. Da geht es darum, schnell Märkte zu besetzen und Marktanteile zu gewinnen.
Der Chef des Online-Lieferdienstes Knuspr, Erich Comor, hat gesagt, dass der Schlüssel zur Profitabilität ein teurer Warenkorb sei – dass die Kunden also für möglichst viel Geld einkaufen. Gilt das für alle Online-Händler – also auch für Hellofresh und Delivery Hero?
Grundsätzlich ja, aber das ist so direkt nicht wirklich vergleichbar. Bei Delivery Hero zählt der Bestellwert gar nicht so sehr, sondern vielmehr, wie viel sie anteilig von ihren Partnern bekommen. Da liegen sie in Bereichen von 20 Prozent, was schon immens ist – und liefern zum Teil nicht einmal selbst. Insofern ist das eine andere Kalkulation. Dieses Marktplatzmodell kann sich im Grunde schon gut rechnen. Bei Hellofresh sieht das anders aus und ist in der Kalkulation eher vergleichbar mit Knuspr. Allerdings hat Hellofresh erheblich höhere Margen und entsprechend eine enorme Profitabilität.
Ist der Fokus auf Profitabilität ein kurzfristiges Phänomen im E-Commerce oder bleibt das länger?
Ich befürchte, dass uns das jetzt ein paar Jahre begleiten wird. Zumindest so lange, wie die Inflationsthematik da ist. Jetzt ist die große Skepsis da, und wenn die Skepsis einmal da ist, lässt sie sich auch nicht so einfach zurückdrehen. Ich gehe bei Risikokapital von einer Durststrecke aus, wie wir sie schon nach 2008 erlebt hatten. Dass also zwei bis drei Jahre nicht viel in dem Bereich geht, die Investoren dann wieder langsam Mut fassen und sich dann wieder gegenseitig hochschaukeln.
Wenn das so kommt: Werden wir demnächst weniger Start-ups im E-Commerce sehen?
Es wird zunächst einmal eine Konsolidierung geben. Die, an die man glaubt, bleiben und die anderen scheiden aus. Aber ja: Die nächste Generation wird es jetzt erstmal schwer haben. Ich erwarte die nächsten Start-up Hype-Wellen erst wieder ab 2025 oder noch später.
Wie sieht denn ein erfolgreiches Start-up im E-Commerce aus, das sich sogar in den kommenden drei Jahren durchsetzt?
Das muss aus sich heraus profitabel wachsen können. Also wenig Kapitalbedarf haben und sein Schicksal selbst in der Hand haben.
Und technisch?
Zuletzt wurden vergleichsweise simple Modelle extrem gepusht, da muss man jetzt wieder deutlich origineller werden. Ich gehe von vier Rahmenbedingungen für den Erfolg aus: App-Ansatz, eigene Lieferkomponente und monetarisierbare Services. Je weniger abhängig von der Handelsmarge, desto besser.
Haben denn Lieferdienste wie Gorillas, Delivery Hero & Co. eine Zukunft in diesem Konzept?
Es sieht ja auch bei denen gar nicht so schlecht aus. Ich achte bei den Lieferdiensten aber immer mehr auf Picnic oder Knuspr, und finde die Lösungen sehr smart. Die halte ich für potenzielle Gewinner. Aus Norwegen kommt jetzt noch Oda hinzu, die ich auch sehr spannend finde. Es gibt auch unterhalb der Hypewelle sehr viel Substanzielles, das aber in letzter Zeit eher unter dem Radar lief.