Peter Brandl ist Kommunikationsprofi, Berufspilot, Unternehmer, Fluglehrer und Autor. Seit über 20 Jahren gehört er zu den gefragtesten Vortragsrednern im deutschsprachigen Raum. Zuletzt erschien im Gabal Verlag sein Buch "Hudson River. Die Kunst schwere Entscheidungen zu treffen" www.peterbrandl.com
„Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie.“ Dieses Erich-Kästner-Zitat scheint bei VW ein paar helle Köpfe zu Dingen bewogen zu haben, die mehr tollkühn als wirklich geistreich waren. Scheinbar ist Angst nicht immer lähmend, sondern kann auch beflügeln – leider manchmal mit unangenehmen Folgen für ein Unternehmen.
Jetzt ist Martin Winterkorn fast schon Geschichte. Als VW-Chef ohnehin. Als Urheber einer der größten Wirtschaftskatastrophen seit Bestehen der Bundesrepublik bleibt er uns natürlich noch ein Weilchen erhalten – wenn auch in zweifelhafter Erinnerung. Klar ist: Unter seiner Führung ist der Konzern immens gewachsen und hat absolute Bestleistungen in Umsatz und Gewinn erzielt. 2015 hat Volkswagen Toyota überflügelt und ist zum weltweiten Autobauer Nr. 1 aufgestiegen – um dann den Ikarus zu geben und höchst peinlich abzuschmieren. Denn so nennen wir Piloten es uncharmant, wenn es rasant und unfreiwillig zurück auf den Boden der Tatsachen geht.
In der Tagespresse wurde viel Druckerschwärze verpulvert beim Versuch, der Katastrophe auf den Grund zu gehen. Wenn Winterkorn was wusste – was war es wann? Oder hat er sich den klassischen Politikertod eingehandelt und ist zwar nicht schuld, aber verantwortlich? Vermutung reiht sich an Verdacht und Verdacht an Vermutung, und immer noch wissen wir nicht: Wenn Winterkorn nicht selbst den direkten Auftrag gegeben, das Ansinnen durchgewunken oder sich einfach taub gestellt hat – für was, zum Himmel, ist er dann überhaupt verantwortlich? Dafür, dass er keine Quasi-Stasi im Unternehmen installiert hat, die ihm vom geklauten Kugelschreiber bis zur Softwaremanipulation alles meldet?
Flugzeugführer und Firmenlenker
Mit zum Schlimmsten, das den Passagieren auf einem Flug widerfahren kann, zählen herrschsüchtige und kontrollwütige Besserwisser-Piloten, die ihr Cockpit dominieren und den Kopiloten zum Grüßaugust degradieren. Noch schlimmer wird es, wenn der Kopilot sich darauf reduzieren lässt, weil er vielleicht noch unerfahren und der andere ein alter Hase ist. Kommt es nämlich hart auf hart, und der Pilot Non-Flying muss dem Pilot Flying das Ruder aus der Hand nehmen, kneift der womöglich. 1996 ist eine Maschine der Birgin Air bei Puerto Plata in der Dominikanischen Republik genau deshalb abgestürzt. Kopilot und Flugingenieur schrien zwar verzweifelt „Nicht am Ruder ziehen! Drücken!“, als die Maschine in tödliche Steillage geriet, aber keiner der beiden hatte das Rückgrat, dem Chef die Kontrolle zu entziehen.
Was für Flugzeugführer gilt, trifft auch für Firmenlenker zu: Sie sind verantwortlich für das Klima an Bord, und diese Verantwortung ist weit diffiziler, als man auf den ersten Blick glauben mag. Martin Winterkorn hat den Shareholder-Traum personifiziert und VW an die Spitze gehievt – üppige Dividenden (nicht zu vergessen fast 17,5 Mio. Euro eigenes Jahresgehalt 2011) inklusive. Aber dieser Traum hatte offenbar einige Schwachstellen: Winterkorns unstillbarer Erfolgshunger, sein alles hinwegfegender Perfektionismus und sein Hang zum cholerischen Ausbruch. Diese Schwächen haben dazu geführt, dass keiner den Herold der Niederlage an der Emissionsfront spielen wollte.
Was nicht passt, wird passend gemacht
Die Folgen daraus lassen sich im Baumarkt-Jargon beschreiben: Wenn „Geht nicht, gibt’s nicht!“ auf Gedeih und Verderb zur Parole wird, gilt eben auch „Was nicht passt, wird passend gemacht.“ Und so haben die Kollegen aus Forschung und Entwicklung das Kind zuerst geschaukelt und zuletzt mit dem Bade ausgeschüttet – mit den bekannten Folgen fürs Werk, die deutsche Wirtschaft und den Ruf des Made in Germany.
Natürlich kann man hier sarkastisch werden und meinen, dass VW trotzdem Qualität geliefert hat. So eine ausgefuchste Software muss man erst mal programmieren und implementieren. Leider haben die Genies, die im Werk am Werk waren, nicht nur demonstriert, dass deutsche Wertarbeit kein Mythos ist. Sie haben auch bewiesen, dass genial und schlau nicht immer Synonyme bedeuten. Immerhin gibt es eine Erklärung, wo keine Entschuldigung greifen kann – Winterkorns Ehrgeiz, sich ein Denkmal zu setzen, wo ein Denk-mal ein paar Milliarden gespart hätte.
Wir sind alle Winterkorn
Doch wofür wollen wir, die Öffentlichkeit, ihn geißeln? Auch wir sind manchmal gnadenlos in unserer Sehnsucht und unseren Begehrlichkeiten. Etwa in unserem Verlangen, als Deutsche geliebt, statt immer nur ehrfurchtsvoll taxiert zu werden. Wie sehr haben wir uns 2006 doch am Medienhype über das deutsche Sommermärchen berauscht. Wie stark wird im Vorfeld der Druck auf den Organisatoren gelastet haben, den korrupten Fußballzirkus ins Land zu holen? Das können wir kaum ermessen. Die Versuchung muss riesig gewesen sein, das zu tun, was ohnehin alle tun, in der Hoffnung, dass schon nichts rauskommen wird. Heute posaunen wir trotzig: „Wir lassen uns die Erinnerung an unsere fahnengeschmückten Seitenscheiben nicht verderben.“ Dabei vergessen wir in dieser Sturheit gern, wie sehr wir durchs Menschliche, Allzumenschliche mitverantwortlich an der aktuellen DFB-Misere sind.
Genau hier liegt der Volkswagen-Hase im Pfeffer: Solange überambitionierte Chefpiloten im Unternehmenscockpit Eismangel in der Sahara für eine Folge schlechten Managements halten, solange werden Manager alles tun, um sich zum Elixier des Erfolgs zu tricksen. Deshalb verlässt mit Winterkorn auch nicht einfach ein Top-Manager die Bühne. Mit ihm geht auch ein Beispiel für die alte Garde, deren gnadenloser Ehrgeiz nicht nur sie selbst, sondern auch ihr Unternehmen zerfrisst, weil er sein Maß verloren hat. Nur verurteilen sollten wir ihn nicht. Denn ein bisschen Winterkorn steckt in jedem von uns.
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