Capital: Herr Nitsche, Sie haben Chemie-Olympiaden und Schachmeisterschaften gewonnen und dann Mathematik studiert. Wie wird man so ein Genie?
Maxim Nitsche: Ich bin in einer Mathematikerfamilie groß geworden. Mein Vater hat uns Kinder Denksportaufgaben lösen lassen, als wir noch klein waren.
Sie gaben Nachhilfeunterricht und kamen mit 14 auf die Idee, Erklärungen zu Kurvendiskussionen und Integralrechnung zu digitalisieren. War Ihr Vater begeistert?
Er nannte es eine Schnapsidee. Es dauerte sechs Monate, bis mein Bruder Raphael und ich ihn davon überzeugt hatten. Dabei haben wir gemerkt, dass wir unangenehm hartnäckig sein können, wenn wir als Team arbeiten. Irgendwann war mein Vater so genervt, dass er bereit war, uns zu helfen, falls wir Zahlen, Fakten und einen Businessplan liefern würden. Das ist mit 14 gar nicht so einfach.
Und was haben Sie geliefert?
Wir haben ihm gezeigt, dass Mathe ein Monsterproblem und der Markt riesig ist. In Deutschland werden jährlich 1 Mrd. Euro für Nachhilfe ausgegeben, in Südkorea das Achtfache, weltweit werden es 2021 voraussichtlich mehr als 100 Mrd. Dollar sein. Da hat mein Vater gesagt: „Okay, das ist ein großes Ding.“
Das war 2009. Ist sonst niemand auf diese Idee gekommen?
Die hatten einige, auch Microsoft. Aber es ist eine hochkomplexe Aufgabe. Wir hatten zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Riecher und sind das perfekte Team. Mein Vater, der Schachcomputer und Suchmaschinen programmiert hat, lieferte den ersten Entwurf. Mein Bruder und er haben es dann noch zweimal verworfen und neu geschrieben.
Bei der Investorensuche sind Sie in der TV-Show „Höhle der Löwen“ abgeblitzt. Wie haben Sie den Durchbruch geschafft?
Viele Investoren haben uns abgelehnt, bei anderen sahen wir keinen Sinn in deren Beteiligung. 2015 stieg dann David Klett, der Sohn des Schulbuchverlegers, mit zehn Prozent bei uns ein. Das passte perfekt. So kamen wir auf die Idee, unsere Methode an Verlage und Techfirmen zu lizenzieren, und verhandelten darüber mit dem US-Bildungskonzern Chegg. Gleichzeitig wurde ich bei einer Techkonferenz in Singapur von einem amerikanischen IT-Konzern und einem chinesischen Konzern gefragt, ob ich mir einen Verkauf vorstellen könnte.
Da schwante Ihnen, dass Sie bald Multimillionär werden?
Ja, ich dachte: „Wow, jetzt kommen gleich zwei auf einmal an!“ Bei denen hätten wir womöglich einen höheren Verkaufspreis erzielt. Aber Chegg teilt unsere Vision, durch Bildung die Gesellschaft zu verändern.
Chegg überwies 20 Mio. Euro. Was machen Sie mit dem Geld?
Nichts Großes. Ich genieße es, dass ich mir keine Gedanken machen muss, ob ich im Café noch etwas bestellen kann. Mein Bruder hat sich Filmplakate gekauft, mit denen er seine neue Wohnung tapeziert.
Dann ist ja noch was übrig …
Wir fangen gerade erst an, uns eine Investmentstrategie zu überlegen. Außerdem planen wir, ein internationales Schachturnier in Berlin aufzuziehen, das anders als alle sein soll, die es bisher in Deutschland gibt.
Welche Rolle hat Geld in Ihrer Familie früher gespielt?
Mein Vater ist immer sehr offen mit allen Informationen umgegangen - auch was Geld betrifft. Wenn es knapp wurde, dann hat er das kommuniziert. Wir wussten dann auch als Kinder, dass bestimmte Sachen nicht gekauft wurden. Zweimal war es ziemlich eng, unter anderem als mein Vater 2006 Finanzmittel für eine Firma brauchte, die er hochziehen wollte. Die Zusage kam dann an meinem Geburtstag.
Sie haben Math42 über acht Jahre hinweg von der Schulbank aus zum reifen Start-up herangezogen. Haben Sie in der Zeit nichts verpasst?
Wir haben viel daran gearbeitet. Aber ich habe schon noch Tennis und Basketball gespielt, wir sind auch gerne abends ausgegangen. Außerdem spiele ich nach wie vor jeden Tag mit meinem Bruder Schach.
Haben Sie dafür nach dem Verkauf nun mehr Zeit?
Wir sind gut eingespannt. Mein Vater, Raphael und ich gehören jetzt zu den 700 Mitarbeitern von Chegg und leiten die Matheabteilung des kalifornischen Unternehmens. Wir sind gerade dabei, ein Team aufzubauen, und suchen weltweit nach guten Leuten. Ich liebe das Reisen und bin nun regelmäßig in Santa Clara, Israel und Indien unterwegs. Ich genieße es, mit so brillanten Leuten an einem Großprojekt zu arbeiten.
Woran arbeiten Sie nun?
Wir wollen das Lernen einfach und effizient machen. Jeder Schüler und Student soll mit unseren Programmen jedes Problem möglichst schnell verstehen und lösen können. Wir ändern das Paradigma, und wenn der Markt eines Tages bereit ist, können wir Bildung revolutionieren.
Ein Rätsel müssen Sie noch auflösen: Warum haben Sie Ihre Lern-App „Math42“ genannt und nicht „Math24“ wie die vielen Firmen, die Rund-um-die-Uhr-Service suggerieren wollen? Ist das eine Referenz an „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams?
Genau. Als wir einen Namen für unsere App gesucht haben, sagte unsere Stiefmutter Oxana: „Ihr redet doch die ganze Zeit davon, dass das die Antwort auf alle Mathefragen sein soll. Nennt es doch Math42, dann habt ihr die Antwort auf alle Fragen.“ Es ist die Zahl, die bei Douglas Adams der Supercomputer auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest ausspuckt.
Maxim Nitsche , 22, hat mit seinem Bruder Raphael und seinem Vater Thomas die Nachhilfe-App Math 42 erfunden, die mathematische Aufgaben löst und erläutert. Mehr als drei Millionen Menschen weltweit nutzen das System. Im Oktober 2017 hat der US-Konzern Chegg das Berliner Familienunternehmen für 20 Mio. Euro übernommen.