Capital: Herr Rebitschek, Sie sind Projektleiter für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Erklären Sie uns, was Sie unter Risikokompetenz verstehen?
Felix G. Rebitschek: Risikokompetenz beschreibt ein Bündel von Wissen, Fähigkeiten und konkreten Fertigkeiten, welches ein kritisches Verständnis von unsicheren Ereignissen und einen für das eigene Leben dienlichen Umgang mit diesen ermöglicht.
Capital: Hat diese bei Entscheidern und Entscheiderinnen in Politik und Wirtschaft hierzulande in den letzten Jahren eher zu- oder abgenommen?
Es gibt keine längsschnittliche Messung dieser Kompetenz, insofern fehlt mir die Evidenzbasis. Angesichts der aus gutem Grund zunehmenden öffentlichen Auseinandersetzung mit der Qualität wissenschaftlicher Ergebnisse und der Frage, wie belastbar manche Statistik sei, weist das Verabschieden von manchen Gewissheiten auf verbesserte Risikokompetenz hin.
Simple Lösungen helfen bei komplexen Entscheidungen
Oft heißt es, die Welt sei komplexer geworden. Angenommen, das stimmt: Braucht es dann auch komplexe Lösungen oder würden trotzdem einfache Entscheidungsstrategien helfen?
Unabhängig von einer objektiven oder subjektiven Komplexitätsveränderung ist in der Tat die Frage essenziell, ob komplexe Entscheidungsprobleme komplexe Lösungen benötigen – und die Antwort ist nein. Ohne Absolutheitsanspruch wird eine Fülle von komplexen Entscheidungen unter Unsicherheit durch simple Strategien, z.B. Daumenregeln oder Heuristiken, zufriedenstellend und zugleich besser als durch Alternativen getroffen. Entscheidend sind drei Aspekte: die Unsicherheit, das Zufriedenstellende und das Simple.
Was ist damit gemeint?
Unsicherheit, im Sinne von Ambiguity, bedeutet, dass es nicht genügend belastbare Evidenz gibt. Gut mit Zahlen jonglieren zu können heißt somit nicht, hier eine bessere Entscheidung zu treffen. Im Gegenteil: Es geht darum, mit der Unvollständigkeit der Evidenz umgehen zu können.
Zufriedenstellende Entscheidungen zu treffen bedeutet, sich ein Ziellevel für das minimale Wunschergebnis vorzunehmen, man spricht auch von Aspirationslevel. Unter Unsicherheit ist das eine weitaus effizientere Strategie als eine vergebliche Optimierung.
Simple Entscheidungsstrategien zeichnen sich gegenüber komplexeren dadurch aus, dass für die Entscheidung verfügbare Informationen, das heißt bestimmte Problemaspekte, ignoriert werden. Und genau bei komplexen Problemen der Unsicherheit, z.B. in sich ständig ändernden Märkten, ist diese Strategie vom wissenschaftlichen Standpunkt aus hoch bedeutsam.
Auf robuste Schlüsselaspekte setzen
Es ist also besser, manche Informationen zu ignorieren, bevor man eine Entscheidung trifft?
Sicher, Sie müssen wichtige Aspekte für Ihre Entscheidung berücksichtigen. Genauso wie ein Algorithmus laufen Sie aber Gefahr, Ihre Schlussfolgerungen zu sehr an Ihren vergangenen Beobachtungen zu overfitten, sich zu sehr danach zu richten. Das heißt: Je mehr Aspekte der Problembeschreibung Sie für eine Entscheidung berücksichtigen, desto größer ist das Risiko, dass Sie zu einem verzerrten Urteil gelangen. Dies liegt daran, dass jeder einzelne Aspekt sein eigenes kleines Risiko hat, in Ihrem konkreten neuen Problem anders gestaltet zu sein. Anders gesprochen: Jeder Aspekt, auf den Sie Ihr Urteil stützen möchten, streut, variiert von Fall zu Fall. Vielen Aspekten mangelt es an Bedeutung, aber Sie riskieren Ihnen fälschlicherweise eine zuzuschreiben. Sie sollten also eher nur auf robuste Schlüsselaspekte setzen und die Anzahl der Aspekte, die Sie zur Entscheidung heranziehen möchten, begrenzen. Sie machen einen sogenannten Bias-Variance-Tradeoff.
Wie kann man Unsicherheiten und Risiken also richtig einschätzen?
Probleme des Risikos lassen sich mit Sicherheit besser einschätzen, wenn man mehrere Fragen prüft: Wie wahrscheinlich sind mögliche Nutzen und Schäden verschiedener Optionen, die einem zur Verfügung stehen? Für wen und unter welchen Bedingungen sind die Zahlen überhaupt gültig – gelten Sie für meinen Fall? Wie wahrscheinlich würden zukünftige Studien die vorliegenden Zahlen für meine Entscheidungsgrundlage ändern – also wie gut ist die Evidenz?
Probleme der Unsicherheit müssten demgegenüber als solche erstmal erkannt werden – das Eingeständnis, dass belastbare Zahlen fehlen, denen man auch noch im Lichte neuer Studien vertrauen würde. Sofern erkannt, sollte man Expertenwissen einholen, vor allem auch Erfahrungen von Entscheidern, worauf Sie sich bislang verlassen haben – was sind möglicherweise robuste Schlüsselaspekte, bei denen man davon ausgehen kann, dass Sie auch beim eigenen Problem aussagekräftig zur Lösung beitragen. Diese Schlüsselaspekte zu prüfen ermöglicht Ihnen, die Unsicherheit zu reduzieren.
Zuverlässige Zahlen als Entscheidungsgrundlage
Nehmen wir das Beispiel Handelsstreit zwischen den USA und China: Wie kann ein deutsches Unternehmen realistisch einschätzen, welches Risiko für es von diesem Streit ausgeht?
Angesichts der Unsicherheit der Zukunft und der Akteure wäre im ersten Schritt ein Eruieren von Warnhinweisen problematischer Entwicklungen sicherlich überaus hilfreich. Hierbei kämen verschiedene Experten zu Wort, die Prädiktoren dieser unerwünschten Problemsituationen einschätzen könnten. Anschließend könnte man relevante Prädiktoren filtern und in Entscheidungswerkzeuge gießen. Die Anwendung dieser Werkzeuge könnten einem helfen, eine objektive Standardunterschreitung (z.B. akzeptables Defizit) frühzeitig vorherzusagen.
Gibt es einfache Praxistipps, die beim Finden von Entscheidungen helfen?
Man sollte sich eingestehen, ob es wirklich zuverlässige Zahlen als Entscheidungsgrundlage gibt. Falls ja, gilt es, kritisch nachzufragen, um ein Problem erstmal zu schärfen – auf wen und was beziehen sich die Zahlen? Und sich immer absolute Ausgangs- und Zielwerte, Schätzer der Auswirkungen verschiedener Handlungsoptionen kontrastierend vor Augen führen. Wenn es keine zuverlässigen Zahlen gibt gilt, für sich ein zufriedenstellendes Ziel festzulegen. Und herauszufinden, worauf frühere Entscheidungen erfahrener Kollegen in Ihrer Rolle beruhten. Wie können deren Erfahrungen Ihnen helfen, zumindest die Spreu vom Weizen zu trennen – worauf achten Experten da üblicherweise?
Dr. Felix Rebitschek ist Projektleiter im Harding-Zentrum für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung . Er forscht im Bereich verbessertes Entscheiden und beschäftigt sich als Kognitionspsychologe zudem mit Grundlagenfoschung zum schlussfolgernden Denken.