Es gibt zwei Zahlen, die Deutschland in diesen Wochen ganz gut zusammenfassen: 97 und zehn. 97 Prozent der Deutschen erwarten, dass sich die wirtschaftliche Lage in den kommenden Monaten weiter verschlechtern wird – oder sie zumindest bleibt, wie sie ist. Was mitten in einer Rezession, wie sie das Land aktuell durchlebt, auch nicht gerade als optimistisch durchgehen kann.
Allerdings sagen nur zehn Prozent der Menschen, dass es ihnen wirtschaftlich wirklich schlecht geht. Immerhin 53 Prozent sagen, dass sie sich wirtschaftlich gut oder sehr gut aufgestellt sehen, 36 Prozent antworten mit teils, teils.
97 und zehn – diese beiden Zahlen aus dem jüngsten ZDF-Politbarometer beschreiben die Zerrissenheit, in der sich Deutschland im Frühjahr 2024 befindet. Vier Jahre Dauerkrise haben tiefe Spuren hinterlassen: Statt des erhofften Aufschwungs nach der Pandemie und der Rückkehr zur Normalität stürzte das Land in weitere Krisen: Ukrainekrieg, Energiekrise, Inflation und die Sorge, dass der Krieg im Osten so schnell nicht verschwinden, sondern uns noch lange beschäftigen wird. Das alles kommt obendrauf auf die großen Transformationsaufgaben, die die Unternehmen und ihre Mitarbeiter ohnehin schon hatten.
Was können wir Deutsche eigentlich?
Dagegen steht jedoch – was gut ist und an sich schon Anlass zu Optimismus gibt – eine große persönliche Zufriedenheit. Der Mehrheit in diesem Land geht es trotz der nun schon vier Jahre währenden Krise gut: materiell und wahrscheinlich auch mental. Einbrüche, große Aufgaben und Verunsicherung mögen da sein, aber sie hauen uns offensichtlich auch nicht einfach um.
Auf der einen Seite die große Unsicherheit, die Zukunft, die „radikal offen ist“, wie der Historiker Andreas Rödder kürzlich im Capital-Gespräch sagte, und auf der anderen Seite eine Geschichte an Erfahrungen, an gewachsenen Stärken, die auch ein sicheres Fundament bieten: Dieses gleichzeitige Für und Wider hat Capital weitergereicht an prominente und wichtige Entscheider, an legendäre Unternehmer, junge Gründerinnen und erfahrene Manager und Managerinnen – mit den Fragen: Was können wir eigentlich, wir Deutsche? Wofür steht das Land, und wofür steht es womöglich mehr als andere Länder? Was gereicht uns zum Vorteil, und worauf können wir aufbauen?
Die gute Nachricht vorneweg: Deutschland hat offensichtlich viele verschiedene Stärken, die in diesen Wochen zwischen all den schlechten Nachrichten oftmals zu wenig Beachtung finden.
Was Managerinnen und Manager an Deutschland schätzen
Deutschland hat seine Grundfähigkeiten bewahrt: Es gibt eine kluge, gut ausgebildete, leistungsorientierte, lernwillige, weltoffene Bevölkerung. Wir haben Europa und China als Absatzmarkt, einen agilen Mittelstand und zunehmend relevante Start-ups. Außerdem ist Deutschland immer noch vielfältig, liberal, sauber, sicher und sehr schön – bietet also in Summe eine hohe Lebensqualität und ist damit attraktiver als die meisten Standorte auf der Welt.
Was können wir Deutschen besonders gut – vielleicht auch besser als andere?
Wirtschaftlich hat Deutschland nach wie vor eine starke industrielle Basis, getrieben von großen Konzernen ebenso wie mehr als 3000 Hidden Champions im Mittelstand, die mit ihren Produkten auf der Weltbühne brillieren. Diese Unternehmen wirtschaften langfristig und agieren deshalb mit einem hohen Maß an gesamtgesellschaftlicher Verantwortung. Viel des „Made in Germany“ Erfolgs gebührt ihnen. Wir bringen außerdem starke Forscher hervor - sowohl in der KI als auch in der Robotik oder im Biotech-Bereich - auch wenn die Kommerzialisierung häufig anderswo stattfindet, besitzen wir erstklassige Talente. Darüber hinaus sind die Deutschen sehr umsichtig, was grundsätzlich dafür sorgt, dass wir im turbulenten Weltgeschehen einen kühlen Kopf und eine ruhige Hand bewahren. Diese Umsicht wird uns aber teilweise auch zum Verhängnis, weil wir es nicht schnell genug schaffen, auch neue Schritte zu gehen, die mehr Elan und manchmal auch zielgerichtetes Chaos erfordern.
Worum beneidet uns die Welt?
Deutschland und auch Europa sind zunehmend wie Orte, an denen es sich besonders gut leben lässt - nicht unbedingt, weil Deutschland in letzter Zeit so viel lebenswerter geworden ist, sondern weil sich viele Dinge des Alltags andernorts zunehmend verschlechtern. Trotz vieler Herausforderungen genießen wir eine relativ hohe gesellschaftliche Stabilität, eine saubere Umwelt, bleiben weitestgehend verschont von Naturkatastrophen, genießen eine gute gesundheitliche Versorgung und einen breiten Zugang zu Bildung, können uns in Schulen und Supermärkten sicher vor Attentätern fühlen und haben ein funktionierendes soziales Netz, das sich auch um die Schwächsten sinnvoll kümmert. Die meisten von uns leben in gut isolierten Häusern und genießen funktionierende Infrastruktur, die man sich leisten kann. Das ist mehr, als die allermeisten Länder von sich behaupten können - das Leben in Deutschland ist aktuell noch ein sehr lebenswertes.
Was genau hält viele Unternehmen und Unternehmer hier in diesem Land?
Ich verdanke Deutschland sehr viel – angefangen vom Asyl meines Vaters vor mehr als 30 Jahren, meiner kostenlosen Bildung, meinen Rechten als Frau bis hin zu meiner Freiheit als Bürgerin. Wenn ich ganz ehrlich bin, dann wäre es andernorts einfacher, eine Firma zu gründen und Talente aus dem Ausland anzuziehen. Aber das Unternehmertum sucht sich nicht nur den einfachsten Weg, sondern den sinnvollsten. Ich kenne viele deutsche Unternehmer, die eben auch hier gründen, um etwas an das Land zurückzugeben, dem sie so viel zu verdanken haben. Viele wollen Teil einer positiven Veränderung sein und wissen, dass sich die Privilegien, die wir genossen haben, ohne zukünftige wirtschaftliche Erfolge dieses Landes kaum fortschreiben lassen.
Was werden wir noch alles schaffen und bewegen – und was hindert uns daran?
Je düsterer die Nachrichten darüber, wie es um Deutschland steht, desto stärker verspüre ich eine enorme Energie um Teil der Veränderung zu sein. Das spiegelt sich auch in vielen beruflichen Kreisen - unter Gründern und Investorinnen. Deutschland hat das Potential erneut eine Aufwärtskurve zu verzeichnen. Was es braucht ist ein Aufwachen, eine ernergiegeladene Dringlichkeit, die jede Einzelne verspürt und den Umsetzungswillen, wirtschaftlicher Innovations- und Leistungskraft politisch und gesellschaftlich drastisch mehr Bedeutung beizumessen. Konkret bedeutet das: längere Arbeitszeiten, bessere Kinderbetreuung, mehr arbeitsorientierte Migration, weniger staatliche Kontrolle, mehr Freiheiten für Arbeitgeber. Wie wird Deutschland zu dem Land, in dem sich die Unternehmer dieser Welt darum reißen würden eine innovative Firma aufzubauen? Diese Worte zu lesen mag vielen Mitbürgern und Mitbürgerinnen sauer aufstoßen. Aber die Kopfschmerzen, die uns andernfalls in zehn Jahren drohen, sind deutlich schlimmer als jetzt einmal ordentlich die Zähne zusammenzubeißen.
Worum beneidet uns die Welt?
Statt Neid würde ich eher Begriffe wie Anerkennung oder Inspiration verwenden – etwa bei dem Thema soziale Verantwortung: wir sind eine Gesellschaft, die auf Solidarität und Zusammenhalt setzt. Unsere sozialen Sicherungssysteme sind Vorbild für viele andere Länder. Wir kümmern uns um unsere Mitmenschen und setzen uns für Chancengleichheit ein. Das ist eine Haltung, die wir bewahren und weiterentwickeln sollten. Das trifft nicht zuletzt auch auf unser unternehmerisches Handeln zu: Hier liegt eine unserer größten Stärken. Unternehmen hierzulande sind nicht nur wirtschaftlich erfolgreich, sondern auch sozial verantwortungsbewusst. Viele von ihnen sind Familienunternehmen, die nachhaltig handeln und langfristig denken. Sie schaffen Arbeitsplätze, fördern Innovationen und tragen zum Gemeinwohl bei. Bei Hipp haben wir diese Verantwortlichkeiten in unserer Ethik-Charta klar definiert. Die Charta dient uns als moralischer Wegweiser. Zentrale Anliegen sind der faire Wettbewerb und der respektvolle Umgang mit Geschäftspartnern, Lieferanten, Kunden und Mitarbeitern.
Was genau hält viele Unternehmen und Unternehmer hier in diesem Land?
In Deutschland sind viele Unternehmen in Familienhand. Die Eigentümer sind nicht nur Kapitalgeber, sondern auch Gestalter, denen die eigene Herkunft wichtig ist und die Region am Herzen liegt. Entscheidungen werden nachhaltig und auch unter Berücksichtigung sozialer Parameter getroffen, denn es geht um sehr viel mehr als nur den nächsten Quartalsbericht. In der deutschen Wirtschaft – gerade in Familienunternehmen – ist noch das Prinzip des Ehrbaren Kaufmanns zu spüren. Das ist einer, dessen Handeln von ethischen Prinzipien geleitet wird und sich gegen unlauteren Wettbewerb engagiert. Einer, dessen Wort zählt und der seine Mitmenschen so behandelt, wie er selbst behandelt werden will.
Was werden wir noch alles schaffen und bewegen – und was hindert uns daran?
Deutschland bietet eine einzigartige Kombination aus Stabilität und Dynamik. Unsere starke Wirtschaftsstruktur, die hohe Lebensqualität und die exzellente Ausbildung sind ideale Voraussetzungen für Unternehmen. Natürlich müssen wir uns den aktuellen Veränderungen stellen. Die Digitalisierung, der Klimawandel, die demografische Entwicklung – all das sind Herausforderungen, aber auch Chancen, die wir in einem starken Miteinander ergreifen wollen.
Was können wir Deutschen besonders gut – vielleicht auch besser als andere?
- Wir machen uns viele Gedanken und wollen, vor allem nach den schlimmen Erfahrungen des Nationalsozialismus, Gutes in der Welt bewirken
- Manchmal sind wir „himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt“
Was können wir gerade hier am Standort besser als irgendwo anders?
- Wir können auf eine insgesamt gute Infrastruktur zugreifen, ein gutes Bildungsniveau und verlässliche Rahmenbedingungen. Insgesamt klappen die Dinge in Deutschland.
Worum beneidet uns die Welt?
- Um unsere Zuverlässigkeit, einen hohen Lebensstandard und ein funktionierendes Gemeinwesen.
Was genau hält viele Unternehmen und Unternehmer hier in diesem Land?
- Viele Familienunternehmen hält die Heimatverbundenheit und die Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern im Land. Bei kapitalmarktorientierten Unternehmen ist das oft anders.
Was werden wir noch alles schaffen und bewegen – und was hindert uns daran?
- Die vor uns liegenden Projekte werden wir meistern, wenn wir uns auf unsere Tugenden besinnen: Erfindergeist, Arbeitsethos, Gründlichkeit.
- Derzeit hindern uns eine gewisse Orientierungslosigkeit und mangelnder Pragmatismus an der Entfaltung der enormen Potentiale.
Deutschland hat beste Chancen, einer der weltweit führenden Standorte für Kernfusion zu werden – dem „heiligen Gral“ einer sicheren, nachhaltigen und bezahlbaren Energieversorgung. Mit seinen herausragenden wissenschaftlichen und technologischen Kompetenzen, seiner starken industriellen Basis und seinem Engagement für den Klimaschutz kann Deutschland diese zukunftsweisende Technologie entscheidend voranbringen und nutzen. Nukleus dafür sind auch Forschungseinrichtungen wie die renommierte Max-Planck-Gesellschaft – mit Forschungsanlagen in München und Greifswald – die zu den weltbesten gehören und auf jahrzehntelange Erfahrung zurückgreifen können. Derzeit entsteht rund um diese erstklassige Forschungskompetenz eine Startupszene, um die Kernfusion aus dem Experimentiermodus heraus in eine auch kommerziell erfolgreiche Zukunft zu führen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Politik jetzt bereits die richtigen Weichen stellt, um die Entstehung dieser neuen Industrie zu ermöglichen und bestmöglich zu fördern.
Was können wir Deutschen besonders gut – vielleicht auch besser als andere?
Die Welt schaut auf Deutschland als ein Land, wo alles bis ins Detail geregelt ist. Tatsächlich berichten Besucher aus dem Ausland immer über die Sauberkeit und Ordentlichkeit der Städte. Weiter sind die Deutschen in der Spitzengruppe des Exports, also haben wir offensichtlich Vorteile gegenüber anderen Ländern. Unsere Betriebe schauen über die Landesgrenzen hinaus in die Welt.
Was können wir gerade hier am Standort besser als irgendwo anders?
Das Wirtschaftsleben in Deutschland läuft weitgehend ohne Korruption und Vetternwirtschaft, sodass jeder Investor weiß, dass seine Investitionen hier weitgehend sicher sind. Allerdings ist die Cyberkriminalität auch für Deutschland ein zunehmendes Problem.
Worum beneidet uns die Welt?
Ich fürchte, es gibt in dieser Zeit gar nicht viel, worum uns die Welt beneidet. Gleichwohl sind wir nach den neuesten Statistiken die drittgrößte Volkswirtschaft in der Welt nach USA und China. Das wird in der Welt wahrgenommen. Wir müssen uns aber davor hüten, zu einer streikfröhlichen Nation zu werden. Die Welt beobachtet, wie gerade in den letzten 18 Monaten die Streikbereitschaft in Deutschland exponentiell zunimmt.
Was hält viele Unternehmen und Unternehmer hier in diesem Land?
In erster Linie hält uns die Tradition, es halten uns die Wurzeln der Unternehmen, vor allem aber auch die Verantwortung für die Arbeitsplätze der vielen Hunderttausend Menschen, die in Deutschland ein gesichertes Einkommen innerhalb der Betriebe haben. Die überbordende staatliche Reglementierungswut wird übertroffen durch die Rechtssicherheit, die Deutschland immer noch bietet. Die hohen Lohnkosten in Deutschland werden durch hohe Produktivitätseffizienz aufgewogen.
Was könnten wir noch alles schaffen?
Eine Vielzahl von Unternehmen in Deutschland arbeitet mit hohem Enthusiasmus an der Ausweitung von Marktanteilen. Forschung und Entwicklung bewegen sich auf hohem Niveau mit guten Aussichten für Neuprodukte und Erhaltung der Spitzenposition in vielen Marktbereichen.
„Das duale Ausbildungssystem ist ein echtes Erfolgsmodell, um das man Deutschland in der ganzen Welt beneidet. Denn dieses System bringt Jahr für Jahr Zehntausende ausgezeichnet ausgebildete Fachkräfte für Industrie, Handel, Gesundheit und Dienstleistung hervor. Das ist gut für unsere Wirtschaft, denn es hilft den hiesigen Unternehmen, trotz schwieriger Rahmenbedingungen, hoher Steuerlasten und umfangreicher Bürokratie im internationalen Wettbewerb mithalten zu können.“
Was können wir Deutschen besonders gut – vielleicht auch besser als andere?
Wir Deutschen sind pragmatisch. Vor allem aber sind wir es gewohnt, gemeinsam anzupacken und Lösungen zu finden. Hieraus entstanden über viele Jahre Innovationen “Made in Germany”: Von der Erfindung des Autos bis hin zur Entwicklung von führender Medizintechnik. Wir täten gut daran, uns in der aktuellen Situation mit zahlreichen innen- und außenpolitischen Herausforderungen wieder auf ebendiese Tugenden zurückzubesinnen.
Was können wir gerade hier am Standort besser als irgendwo anders?
Produkte aus Deutschland genießen außerhalb des Landes branchenübergreifend einen exzellenten Ruf. Auf Auslandsreisen höre ich deshalb oft, dass wir für unsere Zuverlässigkeit, Qualität und Präzision geschätzt werden. Darauf können wir stolz sein, doch darauf sollten wir uns nicht ausruhen. Wir müssen daran arbeiten, dass auch die nächste Generation diese Werte vermittelt bekommt.
Worum beneidet uns die Welt?
Um unsere stabile Demokratie und Rechtsstaatlichkeit! Das schafft ein gutes Investitionsklima und Planungssicherheit. Übrigens im Privaten genauso wie in der Wirtschaft. Die Welt beneidet uns aber auch um unseren starken Mittelstand. Die deutschen Weltmarktführer sind hochinnovativ und sichern Arbeitsplätze in Städten und im ländlichen Raum gleichermaßen. Das ist ein einzigartiges Setup, was Wirtschaft und Wohlstand nachhaltig stärkt.
Was genau hält viele Unternehmen und Unternehmer hier in diesem Land?
Für mich persönlich natürlich die Verbundenheit zu meiner Heimat. Uns hält die Überzeugung, dass Deutschland die besten Voraussetzungen hat, attraktiver Wirtschaftsstandort zu sein. Obwohl wir uns aktuell eher vom Motor zum Bremsklotz Europas entwickeln. Ich halte es daher für richtig, dass sich immer mehr Unternehmer politisch äußern, auf Missstände aufmerksam machen und Lösungsvorschläge anbieten. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung dafür zu sorgen, dass auch kommende Generationen in Wohlstand und Sicherheit aufwachsen können.
Was werden wir noch alles schaffen und bewegen – und was hindert uns daran?
Ich bin überzeugter Europäer. Für mich ist klar, dass wir uns langfristig als Deutsche nur dann global behaupten können, wenn wir dies innerhalb eines starken Europas tun. Dafür müssen wir auf nationaler und europäischer Ebene einige Baustellen angehen. Mein Credo ist: Wer die beste Infrastruktur hat, hat immer die Nase vorn. Wir sehen ja in Deutschland momentan, wie uns allein ein massiv unterfinanziertes Schienennetz lahmlegen kann. Hier braucht es eine klare Roadmap – und zwar ebenfalls für Bereiche wie die digitale Infrastruktur. Das alles muss mit den europäischen Nachbarn grenzüberschreitend verzahnt werden. Sonst hinken wir hinterher und machen uns abhängig von Ländern wie China und den USA. Aber auch Hindernisse wie Bürokratie und Fachkräftemangel müssen dringend angegangen werden, um das volle Potenzial des Standorts auszuschöpfen. Dass wir willige Arbeitskräfte schneller in Arbeit bekommen, sehe ich als elementar an. Hier hindern uns momentan sinnlose Regelungen und ein hohes Maß an Bürokratie, insbesondere wenn es um die Einstellung von Geflüchteten oder im Ausland lebenden Fachkräften geht. Wir brauchen jede Stunde und jede Arbeitskraft. Deshalb schlage ich zudem vor, dass fünf Überstunden bei einer Wochenarbeitszeit von 38 Stunden steuerfrei vergütet werden können.
„Die deutsche Wirtschaft denkt langfristiger als andere. Das macht sie zu einem attraktiven Hub für Forschung und Entwicklung. Immer, wenn Deutschland als „kranker Mann Europas“ abgeschrieben wird, kommt es zurück. Aber dafür muss es auch bereit sein, Risiken einzugehen und Bürokratie abzubauen.“
Was genau hält viele Unternehmen und Unternehmer hier in diesem Land?
Dafür gibt es viele Gründe: ein verlässliches Rechtssystem, ein bei allen aktuellen Schwierigkeiten stabiles politisches System, qualifizierte Mitarbeiter, sozialer Friede, abseits der staatlich verantworteten Bereiche wenig Streiks, ein meist konstruktives Miteinander von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, ein großes Netz von qualifizierten Zulieferern und Geschäftspartnern und last but not least: hohe Lebensqualität.
Worum beneidet uns die Welt?
Unter anderem um grandiose Wissenschaftsorganisationen wie vor allem die Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft. Dann um die große Zahl eindrucksvoller mittelständischer Unternehmen, von denen viele zu wenig bekannt sind, selbst Weltmarktführer. Sie verkörpern beispielhaften Unternehmergeist und Innovationskraft. Und um die vielfältige Kultur- und auch Medienlandschaft.
„Aus meiner Sicht haben wir in Deutschland sehr gute Voraussetzungen, um in einer gemeinsamen Anstrengung die aktuelle Schwäche der Wirtschaft zu überwinden. Ich will an dieser Stelle fünf Punkte nennen, die mir Zuversicht für die kommende Zeit geben:
Die deutsche Wirtschaft zeichnet sich durch seinen starken Mittelstand und insbesondere die Familienunternehmen aus, die sich im eigenen Unternehmen engagieren und ihre „Heritage“ an die nächste Generation weitergeben. Sie gehen Herausforderungen wie die Digitalisierung oder den Klimawandel pragmatisch und mit langfristig orientierten Konzepten an. Sie bieten ihren Mitarbeitenden Sicherheit und Wertschätzung und stellen einen besonderen Stabilitätsanker für die Wirtschaftsleistung dar.
Den Titel des „Logistikweltmeisters“ – also Platz 1 im Logistics Performance Index der Weltbank - hat Deutschland mittlerweile verloren. Dennoch können wir sehr gut globale Netzwerke bilden, um Menschen zu vernetzen, Waren zu transportieren und dazu gehörende Daten zu teilen. In Sachen Effizienz und Qualität in der Stückgutlogistik ist Deutschland als Logistikstandort immer noch Top.
Die größte Stärke der deutschen Wirtschaft sind die Menschen, die über ein sehr gutes Ausbildungs- und Kompetenzniveau verfügen. Insbesondere die duale Ausbildung ist hier zu nennen, die es anderswo in dieser Form nicht gibt, und die für viele Länder Vorbild ist. Im selben Atemzug ist beispielsweise auch das duale Studium zu nennen. Darüber hinaus besitzen wir auch eine besondere Stärke in der angewandten Forschung. Wir selbst pflegen seit 2017 eine intensive Forschungspartnerschaft mit dem Fraunhofer IML, um gemeinsam Innovationen für die Stückgutlogistik zu entwickeln.
Die deutsche Wirtschaft besitzt eine große Offenheit und Integrationsfähigkeit. Bei Dachser in Deutschland arbeiten Menschen aus 121 Nationen zusammen, um Wirtschaft und Bevölkerung mit Industrie- und Konsumgütern sowie Lebensmitteln zu versorgen.
Deutschland ist bekannt für das hohe Maß an Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen, das zeigen auch die aktuellen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus, die aus der Mitte der Gesellschaft getragen werden. Diese Verlässlichkeit auf Strukturen und Entscheidungen ist ein hohes Gut und sorgt dafür, dass sich der Standort Deutschland im Wettbewerb um Investitionen aus dem Ausland des Öfteren durchsetzen kann. In diesem Zusammenhang sei auch die in der Regel sehr gut funktionierende Tarifpartnerschaft erwähnt, die ebenfalls Sicherheit und Verlässlichkeit gibt.
Alle diese Punkte sind nicht selbstverständlich. Wirtschaft, Politik und Gesellschaft müssen jeden Tag ihr Teil dazu beitragen, dass das auch so bleibt und die deutsche Wirtschaft – hochgradig vernetzt in Europa der gesamten Welt – in Zukunft wieder dynamischer wachsen kann. “
„Als international agierendes Unternehmen nehmen wir wahr, dass Deutschland als Technologiestandort einen exzellenten Ruf genießt. Qualitätsprodukte „Made in Germany“ und unsere technische Expertise sind global gefragt. Unsere Stärken in Forschung und Entwicklung unterstützen technologische Innovationen und den internationalen Markterfolg. Wir stehen jedoch vor maßgeblichen Herausforderungen wie hohen Energiekosten, der Notwendigkeit nachhaltiger Produktionsverfahren, überbordenden Regulierungen und Fachkräftemangel, die eine strategische und zukunftsorientierte Anpassung erfordern, um die Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland langfristig abzusichern.“
Die Menschen in der deutschen Industrie sind hervorragend qualifiziert. Dies gilt nicht nur für Ingenieure oder Naturwissenschaftler in Forschung und Entwicklung. Dank dualer Ausbildung und dualem Studium mit ihrer engen Verzahnung von Theorie und Praxis sind auch die Facharbeiterinnen und Facharbeiter in den Betrieben bestens qualifiziert. Und wir haben das Glück, dass hier in Deutschland alle, die an der industriellen Wertschöpfungskette beteiligt sind, eng und gut zusammenarbeiten können. Wir haben produzierende Unternehmen, wir haben den weltweit geschätzten Maschinenbau mit den Automatisierungsunternehmen. Und wir haben neben den Hochschulen international führende Forschungseinrichtungen wie die Fraunhofer-Institute, die Helmholtz- oder Leibniz-Gemeinschaft oder die Max-Planck-Gesellschaft, um nur einige zu nennen. Qualifikation, Forschung und Marktnähe sorgen dafür, dass im vom Mittelstand geprägten Maschinenbau kontinuierlich neue Technologien erprobt und eingesetzt werden, um Maschinen und Anlagen besser und effizienter zu machen. Unsere Ingenieure, Entwickler und Facharbeiter „tüfteln“, bis Hightech zur Innovation wird. Diese Innovationskraft stellen die vielen Maschinenbauer und Ingenieurbüros täglich unter Beweis. Solange es in Deutschland Ingenieure und Facharbeiter gibt, die „tüfteln“ und den Mut und den Willen haben, Gutes immer noch besser machen zu wollen, solange bin ich zuversichtlich für unsere Wirtschaft.
Was können wir Deutschen besonders gut – vielleicht auch besser als andere?
Wir besitzen einen ausgeprägten Arbeitsethos mit einem Hang zum Perfektionismus. Das hat dazu geführt, dass „Made in Germany“ für viele Jahrzehnte eines der weltweit wichtigsten Gütesiegel für sehr hohe Qualität wurde.
Was können wir gerade hier am Standort besser als irgendwo anders?
Hierzulande haben wir eine hochqualifizierte Facharbeiterschaft, die es in der Form nur in ganz wenigen Länder gibt. Der soziale Frieden ist noch weitestgehend gewahrt, die Infrastruktur trotz ihrer jahrelangen relativen Vernachlässigung noch immer eine der besten der Welt. Und genau in diese Standortfaktoren muss wieder mehr investiert werden.
Worum beneidet uns die Welt?
Um unsere Effizienz, Genauigkeit und Sorgfalt, bei allem was wir tun.
Was genau hält viele Unternehmen und Unternehmer hier in diesem Land?
Wir sollten bei all den kontroversen Diskussionen nicht vergessen, dass wir immer noch einen starken Mittelstand haben mit vielen Familienunternehmen, die das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bilden und sich hier auch grundsätzlich wohl fühlen. Leider haben sich die Rahmenbedingungen für sie in den letzten Jahren nicht gebessert. Aber die Loyalität zum Standort ist nach wie vor groß.
Was werden wir noch alles schaffen und bewegen – und was hindert uns daran?
Wir waren schon einmal der „kranke Mann Europas“. Damals haben wir uns in einem politischen und gesellschaftlichen Kraftakt daraus gelöst und wurden über ein Jahrzehnt zur Konjunkturlokomotive Europas. Dahin müssen wir wieder kommen. Und es wird ein erneuter Kraftakt werden. Wir benötigen wieder einen Ruck, der durchs Land geht, wie ihn einst Roman Herzog einklagte. Was uns vor allem als Hindernis im Weg liegt, ist die immer weiter ausufernde Bürokratie. Zu viele Jobs müssen heutzutage im Berichtswesen angesiedelt werden, die keinerlei Wertschöpfung erzeugen. Das ist totes Kapital, welches wir viel produktiver nutzen könnten.
Was können wir Deutschen besonders gut – vielleicht auch besser als andere?
Wir sind nach wie vor ein Land der Ingenieure und Erfinder. Wir haben exzellente Hochschulen und Forschungseinrichtungen, die hervorragend ausgebildete Fachkräfte hervorbringen und eine immer noch kraftvolle Industrie und Mittelstand und langfristig denkende Familien- und Stiftungsunternehmen.
Was können wir gerade hier am Standort besser als irgendwo anders?
Wir konnten Sprunginnovationen und können inkrementelle Innovationen. Das Automobil, die chemische und pharmazeutische Industrie wurde in Deutschland erfunden. Und auch nach mehr als 100 Jahren stehen zahlreiche Unternehmen aus diesen Bereichen an der Spitze – weil sie sich kontinuierlich weiterentwickelt haben.
Worum beneidet uns die Welt?
Um die inhaber- oder stiftungsgeführten mittelständischen Unternehmen, die über Generationen hinweg mit sozialer Verantwortung führen, die Projekte angehen, die schonmal Jahrzehnte dauern, bis sie Früchte tragen – ohne sich für jedes Quartalsergebnis vor renditefokussierten Aktionären rechtfertigen zu müssen.
Was genau hält viele Unternehmen und Unternehmer hier in diesem Land?
Die gut ausgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit, die freiheitlich demokratische Grundordnung, der soziale Frieden, der attraktive Binnenmarkt der EU – zusammengefasst: Unsere Kultur.
Was werden wir noch alles schaffen und bewegen – und was hindert uns daran?
Das Beispiel Biontech hat uns gezeigt, dass wir nach wie vor imstande sind, innovativ Neues und Großartiges hier in Deutschland zu schaffen. Warum sollte uns das nicht auch in anderen Bereichen gelingen, wie beispielsweise bei der industriellen Nutzung von Fusionsenergie? Die Hindernisse und Bremsklötze sind bekannt und oft genannt: Neben unternehmerischem Mut mangelt es meist noch besonders an der spätphasigen Wachstumsfinanzierung von jungen Unternehmen. Und nicht selten fehlt es - wie im Beispiel der Fusionsenergie - am regulatorischen Rahmen, der jedoch essenziell ist, damit privates Kapital in neue Technologien fließt.
Was können wir Deutschen besonders gut – vielleicht auch besser als andere?
Wir haben in Deutschland eine unglaubliche Schaffenskraft, um hochkomplexe Produkte und Prozesse nicht nur zu entwickeln, sondern auch zu industrialisieren. Wir haben besonders gute Ingenieure und immer noch einen robusten industriellen Kern. Eigentlich der perfekte Mix für die innovative Kraft, die wir für unsere Transformation in Deutschland und Europa brauchen. Mit den richtigen Rahmenbedingungen werden wir auch weiterhin großartige Innovationen aus Deutschland heraus entwickeln und in die Märkte zu bringen. Denn wir sind Spitze in der Umsetzung: „Made in Germany“ war jahrzehntelang ein Gütesiegel und hat uns zum Exportweltmeister gemacht! Auf diese Fähigkeiten können wir weiterhin setzen.
Was können wir gerade hier am Standort besser als irgendwo anders?
Wir sind ein Land voller Ideen und Innovation – in Produkten und Prozessen. In der Stahlindustrie gibt es gute Beispiel dafür: Die GMH Gruppe hat früh in einen Elektroofen investiert und ist somit zu einem riesigen Recycling-Betrieb geworden. Damit konnten wir 80 Prozent unserer CO2-Emissionen reduzieren. Und überlegen dabei permanent, wie wir diesen Prozess noch effizienter und ressourcenschonender gestalten können. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in Deutschland die Innovationsfähigkeit und -kraft haben, die grüne Transformation anzuführen. Gerade aus dem deutschen Mittelstand heraus mit all unseren Tüftlern und Hidden Champions können und sollten wir die Technologieführerschaft für nachhaltige Produktion in Europa anstreben.
Deutschland hat nach wie vor eine starke, wenn auch deutlich abnehmende industrielle Basis, überwiegend gut geführte Konzerne, einen hervorragenden Mittelstand und viele unternehmerische Talente, um die uns die Welt jahrzehntelang beneidet hat. Sie verdienen es, dass die Politik die richtigen Rahmenbedingungen setzt, damit sie sich frei entfalten oder überhaupt überleben können. Eine ökosozialistische Planwirtschaft mit ideologisch motivierten Subventionen, überbordender Bürokratie und enormen Steuer- und Sozialabgabenlasten ist hier nicht zielführend. Deutschland wird wieder vom „Krankenbett“ aufstehen, wenn die Politik den Mut findet, die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft wiederzubeleben und den deutschen Liberalismus mit seinen freiheitlichen Grundsätzen für Bürger und Unternehmen zu stärken.
Wir in Deutschland sind nach wie vor sehr gute Tüftler und Erfinder. Das hat bei uns eine lange Tradition: Autos, Chipkarte, mRNA- Impfstoffe, alle entwickelt in Deutschland. Sicherlich werden auch in Zukunft viele bedeutende Erfindungen hier gemacht. Auch der Computer und das MP3-Format wurden hier entwickelt, aber dennoch ist Deutschland nicht gerade ein berühmter Digitalstandort geworden. Der Schritt von der Erfindung zur kommerziellen Nutzung gelingt hier noch viel zu selten.
Außerdem haben wir ein Ausbildungssystem, um welches uns die Welt beneidet. Duales Studium und Berufsausbildung sind regelrechte Exportschlager geworden, und die Qualifikationen der Arbeitnehmer sind in der Breite wirklich Weltklasse. Das macht Deutschland natürlich als Standort sehr attraktiv für Unternehmen. Wenn wir unser Wohlstandsniveau auch in Zukunft halten wollen, brauchen wir qualifizierte Zuwanderung. Aber wir dürfen ausländische Talente nicht in der Bürokratie etwa bei der Berufsanerkennung ersticken. Hier müssen wir schneller und flexibler werden. Außerdem brauchen wir einen attraktiven und bezahlbaren Wohnungsmarkt in den Städten, wo die produktiven und hochbezahlten Jobs angeboten werden, um Fachkräfte aus In- und Ausland zum Umzug zu bewegen.
Ein anderes Problem kann man zum Beispiel in der Automobil-Branche beobachten. Über Jahrzehnte war die deutsche Auto-Industrie weltweit führend, sowohl in Qualität als auch in Absatzzahlen. Aber den Trend zur Elektro-Mobilität haben wir verschlafen. Wir dürfen uns nicht zu sehr auf die Erfolge der Vergangenheit fokussieren, sonst verpassen wir die Chancen der Gegenwart. Und das führt zu Problemen in der Zukunft. Deutschland braucht die Bereitschaft, sich zu verändern, und den Mut, dafür Risiken einzugehen. Wenn wir die Herausforderungen der Zukunft als Chancen ansehen und entschlossen in neue Technologien investieren, anstatt wehmütig zurück zu alten Zeiten zu blicken, dann können wir noch einiges in Deutschland schaffen.
Der Pharmasektor wird in Deutschland wieder zunehmend als Schlüsselindustrie verstanden. Das war wichtig für unsere Entscheidung, hier 2,3 Mrd. Euro zu investieren. Eine Stärke Deutschlands ist für uns zudem der Fokus auf die Themen Nachhaltigkeit und Gemeinwohl. Lilly Deutschland ist die erste und einzige Firma der Pharmabranche mit einer zertifizierten Gemeinwohlbilanz.
Deutschlands Stärken? Siemens-Vorstand Cedrik Neike nimmt uns für die Antworten mit zu seinem Großprojekte in Berlin:
In Saudi-Arabien sprießen smarte Städte aus der Wüste. Doch daran messen sie sich in Spandau nicht. „Das, was wir hier vorhaben, ist wirklich mehr“, sagt Cedrik Neike, Siemens-Vorstand für die digitale Industrie. „Wir wollen ein 100 Jahre altes Industriegebiet in einen offenen und nachhaltigen Stadtteil umwandeln und zeigen, wie das geht.“
Auf 76 Hektar soll eine Stadt entstehen, die alles bietet, was technisch geht: klimaneutral, Schwammstadt, intelligente Gebäude, Energie- und Verkehrskonzepte, zählt Neike auf. Zwei Industriehubs mit 20.000 Arbeitsplätzen, Wohnungen für 6000 Menschen, ein Forschungscampus, Schulen und Läden. Versorgt durch ein eigenes Nahwärmenetz, Glasfaser, ein Wasserwerk. Ein Showroom für Siemens, eine Blaupause für die Welt. Und das mitten in Berlin.
Zu sehen ist davon an der Nonnendammallee in Spandau bisher – nichts. Im Juni soll Grundsteinlegung sein, sechs Jahre nachdem sich Hauptstadt und Konzern auf das Projekt geeinigt haben. Denkmalschutz, Bauauflagen, Genehmigungen, das dauert alles. Doch digital gibt es die Siemensstadt schon.
Stefan Kögl, der verantwortliche Siemens-Architekt, beamt in das künftige Büro von Neike. Von hier aus startet er die Besichtigung: Drohnen fliegen über das Viertel, Autos sind nicht zu sehen, aus alten Hallen sind lichte, offene Räume geworden, es gibt einen Campus, viel Grün. Aber auch Produktionsfabriken von Siemens. „Wir wollen hier nicht nur Thinktanks und Bürogebäude“, so Neike.
Gut 600 Mio. Euro investiert Siemens als Anschub in den Zukunftsstadtteil, über 4 Mrd. Euro sollen von externen Partnern dazukommen. Die Investoren drängeln sich, erzählt Kögl, manche wollten die ganze Stadt kaufen. 50 Delegationen aus aller Welt haben die Siemensstadt 2023 besucht, erzählt Neike: „Wir sind schon jetzt das Referenzmodell für Stadtteilerneuerungen“ in Regionen, die vor ähnlichen Aufgaben stehen. „Wir unterschätzen Deutschland extrem“, sagt der Mann, der 16 Jahre im Silicon Valley beim Telekommunikationskonzern Cisco gearbeitet hat. „Unsere technologische Stärke, unsere Hidden Champions, unseren Erfindungsreichtum.“ Weltweit gebe es zwei deutsche Begriffe, die jeder kennt: Energiewende und Industrie 4.0. Beides können wir.
Ich bin nun seit 28 Jahren in den USA, nachdem ich 1996 mit meiner Familie hierhergezogen bin. Ich habe zunächst zwei Jahre lang bei einer kleinen Firma mit einem sogenannten H1B-Visa gearbeitet, das wurde verlängert, mir machte die Arbeit Spaß. Nach sechs Jahren fragte mich Elon Musk, ob ich bei seiner neuen Firma mitmachen wollte. Das war in den ersten zehn Jahre nicht leicht, genau genommen extrem hart. Aber irgendwann kam der Erfolg. Was SpaceX gemacht hat, war immer erstaunlich, noch mehr von drinnen, als man von draußen sehen kann. Ich habe mich in diesen 28 Jahren in den USA verändert und ich glaube die deutsche Gesellschaft hat sich auch verändert – diametral. Ich sehe aus der Ferne, dass falsche Prioritäten gesetzt werden und viele Chancen nicht genutzt werden. Nicht nur bei Raketen, sondern auch bei Autos, Digitalisierung.
Aber wenn ich etwas Positives nennen soll, dann fällt mir die Ausbildung nach der Schule ein. Der Zugang zu einem guten Studium ist relativ einfach und nicht mit einer hohen Verschuldung verbunden wie in den USA. Deshalb sind die Menschen in Deutschland gut gebildet, belesen und qualifiziert.
Deutsche sind Tüftler, sie verbessern Sachen die andere erfinden. Zumindest, wenn es sich um mechanische Dinge handelt, in manchen Bereichen (Elektronik, Software) scheint das weniger ausgeprägt zu sein. Perfektionismus, Präzision, Qualität setzt man sich in Deutschland zum Ziel und das spiegelt sich oft in den Produkten wider, ob es ein Fahrrad, Auto oder eine Küchenmaschine ist.