Kaum eine Woche vergeht, in der nicht eine neue Studie schockiert. Manch eine ist absurd, andere sind erschreckend. Es geht um Milliarden. Hunderte Milliarden, die verbrannt werden. Zu Lasten der deutschen Volkswirtschaft und des Bürgers. Durch Kriminalität, Fehlverhalten und Unfähigkeit. Natürlich basieren die meisten Summen auf Schätzungen und dürften eher zu hoch als zu niedrig kalkuliert sein. Denn hinter jeder Studie steckt ein Auftraggeber mit Interessen, oft Unternehmen oder Lobbyverbände. Und seit Winston Churchill wissen wir: „Traue keiner Statistik, die Du nicht selber gefälscht hast“. Trotzdem sind die Zahlen alarmierend. Nur mal angenommen, man könnte diese Löcher stopfen, was wäre alles möglich?
Zum Vergleich: Der Bundeshaushalt 2017 beträgt 329,1 Mrd. Euro. Die Kosten für Hartz IV belaufen sich auf rund 40 Mrd. Euro im Jahr. 2016 haben Bund und Länder rund 20 Mrd. Euro für Flüchtlingshilfe ausgegeben. Zahlen, die plötzlich unglaublich gering, erscheinen.
1. Schlechte Chefs: 105 Mrd. Euro
Die jüngste Studie zuerst. Das Beratungsunternehmen Gallup befragt jährlich deutsche Arbeitnehmer nach ihrem Engagement im Job. Das Ergebnis ist ernüchternd. Nur 15 Prozent der Mitarbeiter brennen für ihren Job, genauso viele haben innerlich bereits gekündigt. Über zwei Drittel (70 Prozent) machen nur Dienst nach Vorschrift. Den Grund dafür sieht Gallup bei Vorgesetzten, die es nicht verstehen, ihre Mitarbeiter zu motivieren. Und das wirkt sich auf wichtige Wettbewerbsfaktoren wie Fehlzeiten, Produktivität, Rentabilität, Qualität und Kundenbindung aus. Denn Arbeitnehmer, die sich emotional nicht an ihren Arbeitgeber gebunden fühlen, zeigen weniger Eigeninitiative, Leistungsbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein – und sie schweigen zudem häufiger zu Fehlentwicklungen. Gallup hat berechnet, dass die innere Kündigung aufgrund schlechter Führung die deutsche Wirtschaft insgesamt bis zu 105 Mrd. Euro kostet. Und zwar jährlich.
2. Wirtschaftskriminalität: 100 Mrd. Euro
In den vergangenen zwei Jahren war mehr als jedes dritte Unternehmen von Wirtschaftskriminalität betroffen (36 Prozent), von den großen Unternehmen sogar fast die Hälfte (45 Prozent). Das ist eines der Ergebnisse der Studie „Wirtschaftskriminalität in Deutschland 2016“, die KPMG in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut TNS Emnid erhoben hat. Dabei ist die Schadenssumme für Unternehmen gestiegen. „Ausgehend von unseren Berechnungen gehen wir von einem jährlichen Schaden in Höhe von rund 100 Milliarden Euro aus“, sagt Alexander Geschonneck, Partner und Leiter Forensic bei KPMG Deutschland. Zwar ist das Bewusstsein für die Risiken, Opfer von Wirtschaftskriminalität zu werden, gewachsen, doch nur wenige Unternehmen sind bereit, in ihre Sicherheit zu investieren.
3. Wirtschaftsspionage: 51 Mrd. Euro
Zugegeben, es wird eine Schnittmenge zur Wirtschaftskriminalität geben. Der IT-Branchenverband Bitkom hat sich in einer Umfrage unter Führungskräften und Sicherheitsexperten von 1074 Unternehmen vor allem auf die digitale Gefahr konzentriert. Danach waren 51 Prozent der deutschen Unternehmen bereits von Datendiebstahl, Sabotage oder Spionage betroffen. Weitere 28 Prozent vermuten zumindest, dass es bei ihnen im Haus bereits zu einem solchen Vorfall gekommen ist. Die Schäden belaufen sich nach Schätzung der Befragten auf einen jährlichen Schaden von 51 Mrd. Euro. Sie setzen sich insbesondere zusammen durch Umsatzeinbußen durch Plagiate (23 Mrd. Euro) und Kosten durch Patentrechtsverletzungen in Höhe von 18,8 Milliarden. Verluste durch Ausfall, Diebstahl oder Beeinträchtigen von IT-Systemen sowie Produktions- und Betriebsabläufen taxieren die Betroffenen auf 13 Mrd. Euro.
4. Schwarzarbeit: 330 Mrd. Euro
Die gute Nachricht vorweg. In Deutschland nehmen Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung weiter ab. „Bessere Beschäftigungsmöglichkeiten in der offiziellen Wirtschaft führen dazu, dass weniger Personen ihre Arbeitskraft in der Schattenwirtschaft anbieten“, heißt es in einer Analyse des Tübinger Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) und der Universität Linz. Das Verhältnis von Schattenwirtschaft zu offizieller Wirtschaft reduziert sich der Studie zufolge im achten Jahr in Folge. Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist mit 10,4 Prozent im Jahr 2016 (Vorjahr 10,8 Prozent) demnach so niedrig wie noch nie seit dem Beginn der Studienstatistik 1995.
In der Schattenwirtschaft werden laut der Schätzung Leistungen im Wert von 330 Mrd. Euro erbracht, 6 Mrd. Euro weniger als 2016. Unter Schattenwirtschaft versteht man Schwarzarbeit - also zumeist Bezahlungen in bar ohne Rechnung und an der Steuer vorbei -, aber auch andere Formen der illegalen Beschäftigung. Deutschland liegt beim internationalen Vergleich des Schattenwirtschaftsvolumens im Mittelfeld ausgewählter OECD-Länder. Dass es hierzulande im Vergleich zu den Vereinigten Staaten oder der Schweiz offenbar attraktiver ist, schwarz zu arbeiten, erklärt Co-Autor Bernhard Boockmann vom IAW mit der hohen Regelungsdichte des Arbeitsmarktes – Mindestlohn und Kündigungsschutz nennt er als Beispiele. „Je stärker der Arbeitsmarkt reguliert ist, desto stärker ist die Versuchung für Arbeitgeber, in die Schattenwirtschaft auszuweichen und dadurch die die Regulierung zu umgehen.“
5. Steuerhinterziehung: 50 Mrd. Euro
Es war die Enthüllung des vergangenen Jahres: die Panama Papers. Die Auswertung von schier unendlichen Mengen an Daten zeigte einmal mehr, wie raffiniert Steuerbetrüger mittlerweile vorgehen, um ihr Geld am Fiskus vorbeizulotsen. Steuerhinterziehung von Privatpersonen und Unternehmen kosten den deutschen Staat jährlich etwa 50 Mrd. Euro. Das legen Schätzungen von Steuerexperten nahe. Treffen ihre Schätzungen zu, entspricht die Summe des jährlichen Steuerausfalls knapp einem Sechstel der Gesamteinnahmen des Bundes – pro Jahr. Laut Thomas Eigenthaler, Bundesvorsitzender der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, gehen zehn der 50 Mrd. Euro auf das Konto sogenannter Offshore-Firmen. (Lesen Sie hier wie einfach Capital eine Offshore-Firma gründen konnte)
6. Cum-Ex-Geschäfte: 12 Mrd. Euro
Da hatten sich die Banken und Finanzdienstleister etwas Feines ausgedacht: die sogenannten Cum-Ex-Geschäfte. Dabei wurden auf verschlungenen Wegen Aktienpakete hin und her geschoben, und zwar solche mit einem Anspruch auf eine Dividende (cum dividend) und solche ohne (ex dividend). Dann wurde gegenüber dem Finanzamt behauptet, sie hätten auf die erhaltenen Dividenden Steuern gezahlt. Das stimmte zwar nicht immer, der Fiskus hat ihnen aber die Steuer trotzdem erstattet, manchmal nicht nur zweimal, sondern drei-, vier- oder fünfmal. Dumm nur, dass ein Whistleblower eine CD mit geheimen Daten an den Fiskus verkaufte. Und die Masche aufflog. Jetzt fordert das Finanzministerium von den Banken die erstattete Steuer zurück. Der Gesamtschaden wird auf 12 Mrd. Euro geschätzt.
7. Korruption: 220 Mrd. Euro
Durch Bestechung und Vorteilsnahme entstehen der deutschen Wirtschaft jährlich Schäden von etwa 250 Mrd. Euro. Das hat der Friedrich Schneider, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Johannes-Kepler-Universität im österreichischen Linz, ermittelt. Allerdings schon 2012. Zahlen für die EU-Staaten, die im vergangenen Jahr vorgelegt wurden, beruhigen aber auch nicht. Demnach kostet Korruption weitaus mehr als bislang angenommen. Dies ergab eine vom EU-Parlament veröffentlichte und von der amerikanischen Non-Profit-Organisation Rand Corporation durchgeführte Studie, wonach im Zusammenhang mit dem Betrug jährlich bis zu 990 Mrd. Euro an Kosten anfallen. In der Studie wurden viele Formen von Korruption untersucht, mit denen sich Firmen privilegierten Zugang zu öffentlichen Aufträgen beschaffen – etwa durch Bestechungsgelder oder die Ausübung einer Machtposition. Den Ergebnissen zufolge fallen allein 5 Mrd. Euro pro Jahr unter die Korruptionsrisiken im öffentlichen Beschaffungswesen. Als häufigste Formen sehen die Autoren dabei an, dass Beschaffungsmaßnahmen nur an bestimmte Unternehmen ausgeschrieben werden, oder Alternativbieter nur wenige Tage Zeit erhalten, um auf die Ausschreibung für einen neuen Vertrag zu reagieren.
8. Versicherungsbetrug: 4 Mrd. Euro
Ja, wofür hat man denn die Versicherung? Ein Malheur ist schnell passiert, der Fleck auf dem Teppich, die kaputte Brille, selbstverschuldet. „Mach ich über meine Versicherung“, bieten Freunde dann gerne an. Doch Obacht, das ist schon Versicherungsbetrug. Und auch wenn alle es so machen, macht es die Sache nicht besser. Im Gegenteil. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) geht davon aus, dass vermutlich jeder zehnte gemeldete Schaden betrügerisch ist. Jährlich entsteht so ein Schaden in Höhe von schätzungsweise 4 Mrd. Euro. Und wer zahlt die Zeche? Richtig, der ehrliche Dumme. Denn natürlich legt die Versicherung die Kosten auf die Beitragszahler um. (Lesen Sie hier eine Reportage, wie Versicherungen Betrügern auf die Schliche kommen)
9. Stau: 25 Mrd. Euro
Kommen wir nach so viel Kriminalität mal zu etwas Alltäglichem: Stau. Jeder kennt das. Nichts geht voran, im Stadtverkehr oder auf der Autobahn. Der Verkehrsforscher Michael Schreckenberg von der Universität Duisburg/Essen hat ausgerechnet, dass die Deutschen pro Jahr 535.000 Jahre im Stau stehen. Umgerechnet seien das zehn Minuten pro Tag, für jeden Deutschen, vom Baby bis zum Greis. Angenommen, die Zeit im Stau, ginge zulasten der Arbeitszeit – für viele trifft das ja zu – dann summiert sich der Schaden für die Volkswirtschaft auf 25 Mrd. Euro. Konkret hat der Wissenschaftler ausgerechnet, was Staus für Logistikunternehmen bedeuten: Vier Kilometer Stau für drei Stunden auf einer zweispurigen Autobahn bedeuten rund 2800 Stunden Zeitverlust – und 100.000 Euro kosten. Als Verlust pro Stunde veranschlagt der Verkehrsforscher bei einem Logistikunternehmen rund 35 Euro. Nicht auszudenken, wenn man jetzt noch die Kosten für Verspätungen bei der Bahn und die Flugausfälle aufgrund von Streiks berechnet.
10. Rauchen: 80 Mrd. Euro
Raucher verursachen in Deutschland offenbar einen weit größeren wirtschaftlichen Schaden als bisher angenommen. Eine Studie des Deutschen Krebsforschungszentrum aus dem Hahr 2015 beziffert die direkten und indirekten Kosten des Tabakkonsums auf knapp 80 Mrd. Euro pro Jahr – 2,8 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Und vor allem räumt sie mit einem Mythos auf: Raucher entlasten die Rentenkasse nicht durch früheren Tod, sondern belasten sie, weil sie früher in Rente müssen und wegen niedrigerer Einkommen auch weniger einzahlen. Die Kostenvergleichsstudie des Hamburger Wirtschaftswissenschaftlers Tobias Effertz beruht auf den Daten von mehr als 145.000 Versicherten der Techniker Krankenkasse aus den Jahren 2008 bis 2012. Der Großteil der Kosten fließt in die Krankenbehandlung. Den Rest verschlingen Ausgaben für Rehabilitation, Pflege und die Kosten für Unfälle mit Personenschaden. 1,2 Mrd. Euro kostet zudem die Behandlung von tabakbedingten Erkrankungen bei Passivrauchern.