Manche Politiker machen sich unfreiwillig unsterblich. Der vor einigen Jahren verstorbene FDP-Politiker Guido Westerwelle prägte 2010 den legendären Spruch von der „spätrömischen Dekadenz„: „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein. An einem solchen Denken kann Deutschland scheitern.“ Damals ging es in der politischen Diskussion um eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze. Westerwelle sah „sozialistische Züge“ am Horizont heraufziehen; er sei sehr besorgt über die „Leichtfertigkeit im Umgang mit dem Leistungsgedanken“.
Drei Jahre später bereute er in einem Interview den Begriff der „spätrömischen Dekadenz“. Er stellte klar, dass er damit keine konkreten Menschen verunglimpfen, sondern das allgemeine Anspruchsdenken gegenüber dem Staat kritisieren wollte. Vielleicht sprach aus ihm die beginnende Altersmilde, vielleicht wollte er seine FDP sympathischer machen – man weiß es nicht. Die Rücknahme der Aussage erscheint aus heutiger Sicht vor allem durch einen Umstand unglücklich: Westerwelle hatte recht. Die spätrömische Dekadenz ist da.
Die Vollkasko-Mentalität der Deutschen, die sich in Westerwelles Augen 2010 bereits abzeichnete, hat Deutschland in den frühen 2020ern fest im Griff. Die Jahre 2020 bis 2030 werden darum als „dekadente Dekade“ Deutschlands in die Geschichte eingehen. Auf der wirtschaftlichen Erfolgswelle der letzten zehn Jahre schwimmend und eingeschläfert von 16 Merkel-Jahren, ist die deutsche Gesellschaft satt und fett geworden. Drei gesellschaftliche Trends machen das besonders deutlich:
#1 Der Leistungsgedanke stirbt
In der Arbeitswelt wird die Debatte bestimmt von Experimenten wie der Vier-Tage-Woche, der Suche nach ausgeprägter Work-Life-Balance und der Mentalität: Frage nicht, was du für deinen Arbeitgeber tun kannst, sondern was dein Arbeitgeber für dich tun kann. So zeigt eine aktuelle Umfrage der Beratung EY unter Studenten, dass „Familie“ einen doppelt so hohen Stellenwert hat wie „beruflicher Aufstieg“, sehr gute Work-Life-Balance inklusive. Aber bei allen zeitlichen Einschränkungen, die Absolventen von ihren Arbeitgebern einfordern, soll selbstverständlich das Gehalt trotzdem stimmen. Natürlich gehören Dinge wie faires Gehalt oder vernünftige Arbeitszeiten heutzutage zur Grundausstattung, dafür sorgt schon der Arbeitskräftemangel. Aber das Gesamtbild stimmt schon länger nicht mehr. Ja, selbstverständlich man kann auch in einer Vier-Tage-Woche Leistung bringen. Die Frage ist nur: Wollen die Leute das auch?
Es sind ja nicht nur die individuellen Erwartungen der Arbeitnehmer. Großprojekte, die aus dem Ruder laufen; verfallende Infrastruktur; der lächerliche Digitalisierungsgrad in der Verwaltung; der Akademisierungswahn zulasten des Handwerks - all das sind Symptome einer dekadenten, zunehmend leistungsunfähigen und -unwilligen Gesellschaft. „Leistung“ wird immer mehr zum Anti-Begriff. Die Forderungen nach modernen Arbeitsbedingungen und das Hinterfragen von herkömmlichen Arbeits- und Lebensbedingungen – so berechtigt sie sein mögen - treffen momentan auf ein politisches Klima, das immer weniger eigene Leistung von Bürgern einfordert und an deren Stelle den fürsorglich-paternalistischen Staat setzt.
#2 Die Regierung wirft mit Geld um sich
In der Fernsehserie „Kir Royal“ gibt es eine wunderbare Szene: Mario Adorf als schwerreicher Generaldirektor Heinrich Haffenloher umgarnt bzw. droht dem Reporter Baby Schimmerlos: „Ich kauf dich einfach. Ich sche*** dich zu mit meinem Geld!“ Schimmerlos bleibe gar nichts anderes übrig als darauf einzugehen. Man kann sich diese Szene bei YouTube anschauen – Adorf in Topform.
Die Bundesregierung verhält sich aktuell wie ein wildgewordener Mario Adorf. Egal, welches Problem – man wirft einfach Geld drauf. Entlastungspaket 1, 2, 3: Insgesamt spendiert man 95 Mrd. Euro für die Kompensation der wirtschaftlichen Krise. Bitte nicht falsch verstehen: Selbstverständlich muss man notleidenden Menschen helfen. Und gerade die Energiepreise sind, wie jeder inzwischen weiß, geradezu explodiert. Da muss man gegensteuern. Aber die Bundesregierung hat eines nicht verstanden: Wir erleben tatsächlich eine „Zeitenwende“, aber anders als es Olaf Scholz meint. Die Zeitenwende bzw. der ökonomische Musterwechsel besteht im Wandel von einer Verwaltung der Fülle hin zu einer Verwaltung des Mangels. In den letzten 15 Jahren konnte die Politik das Geld mit vollen Händen ausgeben: Die Zinsen waren niedrig, die Wirtschaft lief, Merkel gab „die ruhige Hand“. Das alles droht nun zusammenzubrechen; wir werden in den nächsten 10, 15 Jahren in eine Verwaltung des Mangels rutschen, die eine Strategie benötigt und nicht nur das planlose Verteilen von Geld. Eine solche Strategie ist nicht erkennbar.
#3 Ideologie schlägt Vernunft
Gerade hat Wirtschaftsminister Robert Habeck in der größten Energiekrise seit dem Zweiten Weltkrieg der weiteren Nutzung der Atomkraftwerke eine Absage erteilt. Nur zwei Kraftwerke will er als Reserve in der Hinterhand behalten. Sprich: Keine Stromproduktion, aber Kosten für die Wartung. Dazu sollte man wissen: Schon 2019 vergab das angesehene Wall Street Journal an Deutschland das Etikett „dümmste Energiepolitik der Welt“. Das beinahe schon selbstmörderische bzw. ideologisch verblendete Verhalten des grünen Wirtschaftsministers wird die Meinung der Redaktion dort wohl nicht so schnell ändern.
Auch in anderen Themenfeldern sehen wir eine zunehmende Ideologisierung. Sei es die Genderisierung der Sprache (die laut Umfragen über 70 Prozent der Bevölkerung ablehnen), sei es eine ausufernde Cancel Culture (beispielhaft die Posse um die „Winnetou“-Filme), sei es die Unterdrückung unpassender politischer Meinungen beim Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk: Ideologisches Denken kriecht überall aus seinen Löchern und übertönt immer öfter die Stimme der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes. Bei Winnetou kann man noch den Kopf schütteln. Bei ungeheizten Wohnzimmern und Unternehmen, die durch die Energiepreise in die Insolvenz getrieben werden (wie der Toilettenpapier-Hersteller Hakle), wird es gefährlich. Es wird wirtschafts- und gesellschaftsschädigend.
Deutschland rutscht in diesem Jahrzehnt immer tiefer in eine Phase der Dekadenz. Es ging uns zu lange zu gut. Leistungslos, am besten mit einem bedingungslosen Grundeinkommen im Rücken, will man das Leben genießen. Arbeiten sollen andere; und wenn man schon selbst arbeiten muss, dann bitte schön sehr gut bezahlt und mit ausgeprägter Work-Life-Balance. Kombiniert mit einem Selbstverständnis des Staates, der sich in der paternalistischen Rolle des Alles-Regulierers gefällt und eine ideologisch gefärbte Wirtschafts-, Arbeits- und Klimapolitik praktiziert, kann man dem Bürger nur raten, sich warm anzuziehen. Dass dies nicht nur im übertragenen Sinn gemeint ist, zeigt, wie dramatisch die Situation ist.
Was wir jetzt brauchen, ist eine Renaissance des Leistungswillens, eine Beendigung der ideologischen Politik und eine Strategie für die Verwaltung des Mangels. Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt? Die berühmte Zeile von John F. Kennedy mag jeder für sich selbst beantworten.