Der Mensch ist dreidimensional. Er ist Körper, er bewegt sich im Raum, er nimmt andere Körper wahr. Diese Prägung auf das Dreidimensionale ist in unserem Gehirn hart verdrahtet. Nicht umsonst ist es für räumliches Sehen ausgelegt, nicht umsonst sind Stehen und Gehen – also das Bereitsein und das Umsetzen von Fortbewegung im Raum – ein natürlicher und muskulär weniger anstrengender Zustand als zum Beispiel das Sitzen. Wenn man sagt: Sitzen ist das neue Rauchen, so hat man damit nicht unrecht. Der Mensch ist ein Wander- und Bewegungstier, es liegt in seiner Natur, seine Umgebung zu kartografieren und physisch zu begehen.
Diese im Gehirn angelegte Dreidimensionalität hat Folgen, für unsere Wahrnehmung, unser Denken, unser Verhalten. Zum Beispiel was Territorialität angeht. Genau wie das Universum strebten wir historisch räumlich auseinander, breiteten uns in immer neue Kontinente, Länder und Gebiete aus. Menschen haben daher seit jeher einen sechsten Sinn für das Angemessene und Unangemessene von Raum. Der Erfinder des „Don Camillo“, Giovannino Guareschi, schrieb in den 1950er-Jahren: „So ist das heutzutage. Eben war die Toilette noch weit weg, über den Hof. Heute ist sie im Raum nebenan. Das eine war Kultur, das andere ist Fortschritt.“ Weniger elegant wollte Guareschi ausdrücken: Man geht nicht dort aufs Klo, wo man isst. Von daher ist das Büro auch eine kulturelle Errungenschaft: Man belässt die Arbeit dort, wo sie hingehört.
Homeoffice ist die neue Toilette
Um in Guareschis Bild zu bleiben: Heute ist das Homeoffice die neue Toilette. Eben war das Büro noch weit weg, heute ist es im Raum nebenan. Unsere physischen und mentalen Räume für Wohnen und Arbeiten rücken zusammen. Der moderne Mensch expandiert nicht mehr – er schrumpft territorial zusammen. Das hat Folgen für unsere mentale Hygiene – und eben nicht nur gute. Ich will die positiven Folgen des Homeoffice gar nicht in Abrede stellen. Allein dass für viele Menschen das Pendeln wegfällt, ist ein Segen für Psyche und Umwelt. Auch dass viele Menschen im Homeoffice tatsächlich produktiver sind als im Büro, ist kein Geheimnis. Dennoch hat uns der Urknall der Coronakrise auch im Hinblick auf Homeoffice gezeigt, wo die Grenzen liegen.
Lebhaft erinnert man sich an das virale Video eines britischen Fernsehmoderators, während dessen Liveschalte sein Kind fröhlich krähend ins Zimmer gehüpft kam. Oder die Legion gewordenen Situationen, in denen man während der Videokonferenz unterbrochen wird – vom Paketboten, seinem Hund, den Kindern. Das alles hat natürlich den Zug des Geringfügigen, keine Frage. Die stillen Dramen spielen sich hinter der Kamera ab. Nicht alle Beschäftigten verfügen über einen separaten Raum; manche sitzen gestresst am gemeinsamen Küchentisch. Unter Umständen ist auch das Equipment ungenügend oder veraltet. Und ja, es sind auch Menschen wieder zu Alkoholikern geworden, denen die soziale Struktur im Büro sozialen Halt gegeben hatte und die ihre Sucht dadurch gut im Griff hatten.
Wir brauchen eine neue Kultur der räumlichen Arbeit
Wenn wir über aktuelle Tendenzen sprechen, Menschen wieder ins Büro zurückzuholen (manche würden sagen: zu zerren), diskutieren wir oft über schlechte Führung, unverständliche Managemententscheidungen und eine Beschneidung der persönlichen Freiheit. Das ist alles richtig, aber nicht das ganze Bild. Wir Menschen hatten in der Moderne eine „dreidimensionale Kultur“ unserer Arbeit entwickelt und „eroberten“ separate Räume für unsere Arbeit. Diese Trennung hat psychologisch gesehen grundsätzlich ihren Sinn. Es gibt gesellschaftlich für sehr viele Dinge separate Räume, nicht nur Büros. Wir beerdigen unsere Toten nicht im Garten, sondern auf dem Friedhof. Wir bestellen uns keinen Glühwein nach Hause, sondern feiern gemeinsam mit anderen auf dem Christkindlesmarkt. Und wir ließen die Arbeit dort, wo sie hingehört: im Büro.
Diese Differenzierung des Raumes ist eine Kultur, die wir nicht leichtfertig aufgeben sollten. Spricht das unbedingt gegen das Homeoffice? Natürlich nicht. Aber Politik und Unternehmen sollten daran arbeiten, den neuen „Raum“ Homeoffice in eine wertige Kultur der Arbeit zu integrieren. Das bedeutet, den Zustand der buchstäblich entgrenzten Arbeit im Homeoffice einzuhegen: durch Wahlfreiheit, State-of-the-Art-Equipment, durch regulierende Betriebsvereinbarungen und durch eine Führung, die den Menschen buchstäblich auch im Homeoffice „sieht“ – nicht regulierend, sondern bewahrend.
Homeoffice ist Care-Arbeit für Führungskräfte. Es braucht diese kulturelle Erneuerung, eine erneute Eroberung des mentalen Raumes. Aber das können wir Menschen Gott sei Dank seit jeher gut.