Sieben Jahre nach seiner Gründung strebt der Online-Modehändler About You an die Börse. Das Unternehmen, an dem die Otto-Gruppe noch 45 Prozent hält, soll im zweiten Quartal in Frankfurt gelistet werden – und so mindestens 600 Mio. Euro erlösen. Die Bewertung von About You lag zuletzt bei geschätzten 4 Mrd. Euro. Der wichtigste Mann hinter dem Erfolg ist Mitgründer Tarek Müller. Ende 2019 porträtierte Capital den ungewöhnlichen Start-up-Kopf.
Stürmischer Erfolg kann auch gleichförmig verlaufen. Zumindest benutzt Tarek Müller dieses Wort, um seinen Alltag zu beschreiben: gleichförmig. „Ich mag es, zu Hause aufzuwachen und jeden Tag das Gleiche zu tun.“
Das Gleiche ist: zwischen 9 und 10 Uhr ins Büro, bis 18 Uhr Meetings im Halbstundentakt, danach E-Mails bis 22 Uhr, dann Zahlen und Excel, im Anschluss E-Mails „auf Basis dessen, was ich in den Reports sehe“, oft bis nach Mitternacht. Vielleicht noch zehn Minuten eine Serie schauen, dann schläft er.
Und: bloß keine Dienstreisen. Die mag er gar nicht. „Es ist etwas, was ich um jeden Preis zu vermeiden versuche. Ich fühle mich produktiver, wenn ich in meiner Routine bin.“ Kreativität entstehe nicht im Chaos. „Die wahre Kreativität entsteht in einem sehr strukturierten Raum.“
Aber heute musste er reisen. Es ist ein Tag im Herbst 2019, Müller sitzt in einem kleinen Büro in München im „Haus der Kommunikation“, dem Sitz der Agentur Serviceplan. Unten treffen sich gerade einige Hundert Markenchefs, abends wird Müller einen Preis bekommen: den „CMO of the Year 2019“, den Preis für den besten Markenstrategen.
99 Prozent Skepsis
Er hat in dem Raum gewartet, und zwar ganz ohne ein Ich-warte-echt-ungern-Gesicht. Ein Rucksack neben ihm, auf dem Boden ein halb ausgetrunkener Bio-Smoothie. Er ist nahbar, ganz ohne Bugwelle, fummelt nicht an einem Smartphone. Erinnert sich gleich an ein Treffen mit Capital vor fünf Jahren, mit Benjamin Otto, da hatten sie gerade losgelegt. Collins hieß das Projekt, der Angriff der Otto Group im E-Commerce, aus dem About You hervorging.
Damals war alles frisch, klein, die Zweifel groß. „99 Prozent haben damals gesagt, das wird nichts“, sagt er sofort. „Das andere Prozent waren unsere Investoren.“
Seit 2014 ist Tarek Müller – neben Sebastian Betz und Hannes Wiese – einer der drei Geschäftsführer von About You, dem rasant wachsenden Onlinemodehändler. 60 Prozent sind es derzeit, Zalando schafft, obschon mehr als zehnmal so groß, noch 20 Prozent. Es ist eine Erfolgsgeschichte im E-Commerce, die begann, als der Kuchen eigentlich schon verteilt schien. 700 bis 750 Mio. Euro Nettoumsatz peilen sie an. Seit dem Einstieg des dänischen Modeunternehmers Anders Holch Povlsen mit knapp 300 Mio. Euro ist About You mit einer Milliarde bewertet, also ein Einhorn. Und einer der Köpfe dahinter und das Gesicht nach außen ist Tarek Müller, der mit gerade mal 30 auf 15 Jahre Berufserfahrung zurückblickt.
About You wollte nicht einfach ein weiterer Onlinehändler sein. „Wir sind eine Mischung aus Modehändler und Modemagazin“, sagt Müller. „Unser USP ist, dass wir den Kunden einladen, mit der App bei uns zu stöbern, und das Ganze immer weiter personalisieren. Wir verstehen den Kunden mit jedem Klick besser und machen dann Vorschläge mit Outfits und Produkten, die passen könnten.“ Nicht wie Amazon, auf Basis des Produkts. Sondern auf Basis des Geschmacks. Personalisierung, Inspiration, Smartphone, das sind die drei Wörter für den Kern des Geschäftsmodells.
Den Stadtbummel digitalisiert
Diese Idee war keine Eingebung, es gab nicht dieses Gründer-Heureka. „Es war kein besonders kreativer, sondern ein analytischer Gründungsprozess“, sagt Müller. „Ich bin eher ein Freund von Daten.“ Struktur und Ordnung, ganz wie sein Alltag. „Die anderen hatten ihr Bauchgefühl, dass es nicht klappt. Wir hatten die Daten und Fakten. Insofern hatte ich keine Bedenken.“
Sie schauten sich den Markt an und sahen: Wer weiß, was er kaufen will, kauft oft online. Da gab es im Bereich Mode wenig zu holen, außer mit sehr viel Kapital. Doch wer es nicht wusste, wer stöbern wollte, der machte das weiterhin in ganz realen Läden und Fußgängerzonen. „Wir haben damals im Wesentlichen den Stadtbummel digitalisiert“, sagt Müller „dieses inspirative Stöbern. Das war ein Bereich, um den sich damals keiner gekümmert und den im E-Commerce keiner gesehen hat.“
Wie aber kommt jemand wie Tarek Müller zum altehrwürdigen Otto-Versand? Nun, mit 18 steht er das erste Mal vor der Tür, in Shorts und Trägershirt, und begehrt Einlass, hat angeblich einen Termin bei einem Vorstand. Nein, kein Mythos, stimmt wirklich die Geschichte, beteuert er. Otto will Müller als Berater anheuern. Der Teenager hatte damals bereits eine Digitalagentur, Netimpact, die 70 Mitarbeiter beschäftigt. Daraus wird eine langjährige Zusammenarbeit.
Drei Jahre vor diesem Termin hat Müller, mit 15 Jahren, bereits sein erstes Unternehmen gegründet. Er spielt damals viel Computer, „Counterstrike“, und weil sie Geld für einen Server brauchen, baut er einen Platz für Werbung ein. Er verdient bald so gut, dass die Schecks von Google immer größer werden – und sein Vater ihm einen Gewerbeschein ausfüllt. Müller legt jetzt richtig los, baut Onlineshops auf, für Poker-Koffer oder Shisha-Pfeifen. „Ich kenne mich eben mit dem Internet und Suchmaschinen aus“, erzählt er damals dem „Hamburger Abendblatt“. Bald macht er über eine Million Umsatz.
Über 100.000 Euro Schulden
Zwei Brüche fallen in diese Zeit: Müller will die Schule schmeißen, verfasst eine E-Mail an seine Eltern, am 8. Januar 2007, 23:26 Uhr. Betreff: „kleine erklärung“.
„Liebe Eltern“ beginnt er, „ich habe das Gefühl, in meiner Firma schon lange meine Lebensaufgabe gefunden zu haben. (…) Das klingt bestimmt voll komisch, aber Handel und Wirtschaft und so sind einfach meine Passion, ohne die mein Leben total langweilig und doof wäre.“
Das Basiswissen, glaubt er, habe er nach der zehnten Klasse. Den Rest will er sich fortan im Netz besorgen, wo man „effektiv in 20 Minuten alles Wichtige lernen kann“, schreibt er, schließlich sei er kreativ „im Ausdenken von Spickmethoden“.
Die Eltern sind entsetzt. Die Mutter, eine Ärztin, stammt aus Ägypten. „In der arabischen Welt nicht zu studieren – das ist das Schlimmste“, sagt Müller einmal im Interview mit der „Zeit“. „Meine arabische Oma fragt heute noch manchmal, wann ich anfange zu studieren.“
Immerhin, er schließt auf Drängen der Eltern das Wirtschaftsgymnasium ab. Und erlebt fast seine erste Pleite. Er hat in eine Fabrik in China investiert, die nie gebaut wird „Ich bin über den Tisch gezogen worden“, sagt er. Plötzlich hat er über 100.000 Euro Schulden. Seinen Eltern verschweigt er alles, schuftet, „20 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche“ – zahlt die Schulden nach sechs Monaten zurück.
Tarek Müller schätzt Sicherheit
Seitdem hat er Respekt vor Niederlagen und schätzt Sicherheit. Vielleicht ein Grund, warum der Kontakt zur Otto-Gruppe intensiver wird. 2013 kauft Otto Netimpact, unter dem Dach des Konzerns entsteht das Projekt Collins, und aus Collins entsteht der Modehändler About You. Tarek Müller investiert auch eigenes Geld in das neue Start-up.
Das Projekt ist gewagt, denn eigentlich gilt: Unter großen Konzerndächern entstehen keine großen Digitalplayer. Otto wählt eine Mischstrategie: Grüne Wiese plus Konzerncontrolling, eigene Büros, aber es wird schön berichtet. Benjamin Otto, als Sohn der Familie einer der Mitgründer, verkündet: „E-Commerce steht erst am Anfang einer neuen digitalen Epoche.“ 140 Mitarbeiter werkelten an Collins, Otto will einen dreistelligen Millionenbetrag investieren. Die Skepsis ist groß.
Fünf Jahre später, ein Abend in München, im „Haus der Kunst“ sitzen einige Hundert Menschen an langen Tafeln mit blau-weißen Tischdecken. Auf der Bühne steht Jens Thiemer, bis 2018 Markenchef von Mercedes, seitdem verantwortet er die Markenführung von BMW. Er redet über einen „Vollblutunternehmer durch und durch, der im Alter von 30 Jahren auf eine Karriere zurückblicken kann, die mehr als die Hälfte des Lebens ausmacht“. Er redet über Tarek Müller, den „CMO des Jahres“. „Du bist heute für die Branche Hoffnungsträger und Erfolgsgarant“, sagt Thiemer.
Kurz darauf steht Müller auf der Bühne, im dunklen Hemd mit schwarzer Fliege, gerührt, verneigt sich, dankt, sagt: „Ich hatte immer den Wunsch, ein Unternehmen aufzubauen, das jeder kennt.“ Und da das Budget nicht das größte gewesen sei, sei er früh auf Social Media und Influencer gekommen. „Das mutige Gehen neuer Wege hat sich ausgezahlt.“ Aber: Man sei noch lange nicht am Ziel. About You sei zwar in zehn Ländern vertreten und Marktführer in Osteuropa. „Aber ich finde es untragbar, dass ich in Spanien Urlaub mache und die Leute dort About You nicht kennen! Wir haben noch große Pläne!“ Es klingt groß, aber nie großspurig, wenn er so spricht.
Undurchsichtiges Zahlenwerk
Tatsächlich hat About You als einer der ersten Händler das Potenzial von Influencern erkannt und strategisch genutzt. „Sie haben im Grunde von Tag eins auf alle relevanten Trends gesetzt, nicht als Buzzword, sondern wirklich konsequent umgesetzt: Inspiration, Mobile first, Personalisierung“, sagt Basir Mustaghni, Handelsexperte bei BCG.
Inzwischen hält Müller Events für „das aktuell große Ding“. Vieles hat er schon gestartet: die „About You Awards“, eine Art Oscar der Social-Media-Szene, Festivals, TV-Shows. Dieses „Branded Entertainment“ will er intensivieren, vielleicht sogar mal mit Netflix oder Amazon Prime.
Natürlich gibt es immer noch Skepsis. Experten kritisieren die fehlende Transparenz der Zahlen, die in der Otto-Bilanz verschwinden. Vor allem die der Verluste, die laut „Lebensmittelzeitung“ 2018 bei 114 Mio. Euro gelegen haben sollen. Andere bezweifeln, ob neben Amazon Fashion und Zalando wirklich noch Platz für gewichtige Player im Modemarkt ist – weil die Großen besser skalieren können und Amazon in vielen Segmenten agiert. Sven Schmidt, VC-Investor und Gründer von ICS Internet Consumer Services, sagte noch 2018, dass About You „dicke, dicke Bretter“ bohren müsse. Und fragte, ob das personalisierte Shopping wirklich eine neue Idee sei – oder nur ein gutes Feature.
Groß wie ein Dax-Konzern
Tarek Müller ficht solche Kritik nicht an, im Umsatz will er 2020 die Milliarde knacken. Für ihn scheinen die Kräfteverhältnisse noch nicht geklärt. Zalando sei zwar größer, sagt er, wachse aber nicht mehr so stark, expandiere ebenso wie der britische Rivale Asos kaum noch geografisch. „Momentan sind wir kapitaleffizienter im Wachsen.“ Vermutlich hat deshalb, so berichtete das „Manager Magazin“, Zalando auch eine Übernahme ausgelotet. Wozu Tarek Müller natürlich nichts sagen kann und will – und im Gespräch das erste Mal sehr wortkarg wird.
Er arbeitet lieber weiter an seiner Vision: About You soll einmal so groß werden wie ein Dax-Unternehmen, mit zweistelliger Milliardenbewertung. Eine Fashionplattform, vielleicht aber auch mehr: 2017 haben sie die About You Cloud gestartet, womit sie ihre E-Commerce-Technologie für Drittanbieter lizenzieren wollen. „Wir könnten“, sagt er, „auch das Betriebssystem der Online-Modewelt werden.“
Und bis dahin: weiter Arbeit und Struktur. Oder wie er sagt: „Jeden Tag im Kleinen Hunderte Dinge optimieren und Spaß daran haben.“ So wie bei dem Problem mit den Tschechen, die immer noch zu 70 Prozent per Nachnahme zahlen, was echt aufwendig ist mit Retouren. Also fragen sie Bankdaten heute noch früher ab. Geht alles, wenn man trotz stürmischen Erfolgs noch ganz gewöhnliche Tage hat.
Der Beitrag ist in Capital 11/2019 erschienen. Interesse an Capital? Hier geht es zum Abo-Shop , wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es bei iTunes und GooglePlay .