Noch am vergangenen Freitag hat sich kaum ein Kleinanleger für den heutigen Donnerstag interessiert. Eigentlich schien alles klar: Die Europäische Zentralbank (EZB) wird ihre Leitzinsen an diesem Tag um weitere 50 Basispunkte erhöhen. Immer wieder hatte Präsidentin Christine Lagarde das erklärt und betont, wie wichtig der Kampf gegen die hohe Inflation in der Eurozone sei.
Doch dann ging in den USA die Silicon Valley Bank pleite und versetzte die Märkte in Aufruhr. Jüngstes Opfer: Die Aktie der ohnehin strauchelnden Großbank Credit Suisse, die am Mittwoch zeitweise um 30 Prozent fiel. Viele Anleger erwarteten deshalb, dass die EZB ihre Zinserhöhungen pausieren könnte, um die Märkte zu beruhigen. Doch ungeachtet der Turbulenzen bekräftigte EZB-Präsidentin Christine Lagarde am Donnerstag ihren Kurs. Die Inflation sei weiter zu hoch, weshalb die Zentralbank die drei relevanten Zinssätze jeweils um 50 Basispunkte anhob. Der für die Banken relevante Einlagezinssatz steigt damit auf drei Prozent.
„Die Inflation ist noch zu hoch und würde es nach unseren Projektionen auch noch lange bleiben“, sagte Lagarde am Donnerstag in Frankfurt. Sie erklärte die Entscheidung vor allem mit der höheren Kerninflation. Zwar seien die Energiepreise zuletzt gefallen, gleichzeitig stiegen aber die Lebensmittelpreise. Die Kerninflation lag im Februar auf einem Rekordhoch von 5,6 Prozent.
In ihren neuen Prognosen geht die EZB von einer etwas höheren Kerninflation in diesem Jahr aus. Sie hob ihre Prognose für 2023 von 4,2 auf 4,6 Prozent an. Die Erwartung für 2024 und 2025 fiel dagegen leicht niedriger aus. Zudem prognostiziert die Notenbank für 2023 und die Folgejahre eine geringere Gesamtinflation als noch im Dezember. Gleichzeitig erhöhte sie ihre Wachstumsprognose für dieses Jahr von 0,5 auf 1 Prozent.
Anders als bei jüngsten Sitzungen vermied Lagarde allerdings einen klaren Ausblick. Sie verwies nur auf die drei Komponenten, die dafür entscheidend seien: „Verfügbare Wirtschafts- und Finanzdaten, die Entwicklung der zugrunde liegenden Inflation und die Stärke der geldpolitischen Transmission.“ Das Ziel sei aber weiter, die Inflation auf das Zwei-Prozent-Niveau zu drücken. Vorher sei der Boden nicht erreicht, so Lagarde. „Sie können sicher sein, dass wir dieses Ziel sehr ernst nehmen.“
Analysten wie Katharine Neiss von PGIM lesen trotzdem ein Ende der Zinserhöhungen daraus. „Die Erklärung enthält eine bemerkenswerte Verschiebung hin zu einem gemäßigteren Grundtenor, indem die Datenabhängigkeit betont und auf die Ankündigung weiterer Zinserhöhungen verzichtet wird“, so Neiss. „Dies ist eine wichtige Änderung, die die Möglichkeit eröffnet, dass diese Zinserhöhung die letzte sein könnte – zumindest für die absehbare Zukunft.“
US-Bankenkrise wird genau beobachtet
Die Turbulenzen bei Banken in den USA beobachtet die EZB sehr genau, wie Lagarde deutlich machte. Beirren ließ sich davon zunächst aber nicht. Zum einen seien die neuesten Daten noch nicht in den aktuellen Projektionen eingeflossen. Außerdem seien die Überschneidungen nicht besonders hoch. „Der Bankensektor ist derzeit in sehr viel besserer Kondition als 2008. Falls nötig, haben wir aber die Instrumente, die wir brauchen. Wir können sie jederzeit aktivieren“, sagte Lagarde.
Tatsächlich stellen sich viele Investoren aktuell die Frage, ob und inwieweit die Schwierigkeiten der Banken in den USA auch ein Problem für Europa werden könnten. Zwar gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen den Bank-Schließungen in den USA und der Credit Suisse, aber die psychologische Komponente ist nicht zu unterschätzen. Insofern sei die Entscheidung der EZB auch richtig gewesen, den Kurs nicht zu verändern, sagt etwa Altaf Kassam, Analyst bei State Street Global Advisors: „Letztendlich hätte eine ,dovishe' Anhebung um 25 Basispunkte den Markt zu der Annahme verleitet haben können, dass tatsächlich das Risiko eines systemischen Zusammenbruchs des EU-Bankensystems aufgrund einer Ansteckung aus den USA besteht.“
Auch andere Analysten wie Ulrich Kater, Chefvolkswirt der DekaBank, begrüßen die Entscheidung – mahnen aber auch zur Vorsicht beim weiteren Vorgehen: „Notenbanken und Aufsicht müssen auch in Europa Gewehr bei Fuß stehen, um im Einzelfall schnell stabilisieren zu können. Wirtschaft und Finanzsystem müssen von einer Dekade Nullzinsen entwöhnt werden.“ Das sei eine mühsame Aufgabe.
Der deutsche Leitindex reagierte auf die Entscheidung zunächst positiv, drehte aber später ins Negative. Die Märkte hatten angesichts der Bankenturbulenzen vorab nur 30 Basispunkte eingepreist. „Die Finanzmärkte wurden vom heutigen Zinsschritt negativ überrascht“, urteilt Otmar Lang, Chefvolkswirt der Targobank. Der Hinweis von Lagarde, einen Baukasten zur Liquiditätsversorgung der Finanzsysteme jederzeit bereit stellen zu können, sollte den Marktturbulenzen entgegenwirken, glaubt Lang.