Geht man auf die Homepage des Stendaler Verkehrsunternehmens Stendalbus, steht unter den aktuellen Meldungen weiterhin ganz oben: „Vorverkauf für das Deutschlandticket gestartet!“ Dabei ist diese Nachricht heute so ziemlich das Gegenteil von aktuell. Der Start des Deutschlandtickets liegt rund acht Monate zurück – und Stendal hat schon wieder den Ausstieg beschlossen.
Als erster Landkreis bundesweit will die Kommune in Sachen-Anhalt nicht mehr mitmachen beim bundesweit gültigen Ticket. Es sei zu teuer und würde zu wenig genutzt. Aber was ist ein bundesweit gültiges Deutschlandticket wert, wenn es nicht mehr bundesweit gültig ist? Und was ist, wenn Stendal nun zum Vorbild wird für andere Kommunen, die ebenfalls nicht zu zusätzlichen Ausgaben bereit sind? Einige denken schon darüber nach. Und sie haben die Macht dazu, das Deutschlandticket zu beerdigen.
Bund und Länder kompensieren nicht alle Kosten für das 49-Euro-Ticket
Die Kreise sind in Deutschland sogenannte Aufgabenträger des ÖPNV. Sie sind dafür verantwortlich, wie Busse und Straßenbahnen fahren und tragen im Zweifel auch die Mehrkosten. Weil viele Gemeinden aber knapp bei Kasse sind, ist jeder zusätzliche Euro eine Abwägung: Stecken wir das Geld lieber in die Kindertagesstätte, ins Schwimmbad oder in den Bus?
In Stendal hat der Kreistag entschieden, dass der Bus beziehungsweise das Deutschlandticket es nicht wert ist. Stendal rechnet für die Monate von Januar bis April 2024 mit 40.000 Euro an Einnahmeausfällen, das könne man sich nicht leisten. „Rational ist der Ausstieg des Kreises Stendal nicht zu begründen“, sagt Eike Arnold vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). „Bund und Länder kompensieren den Löwenanteil der Mehrkosten.“
So steht es auch in den Richtlinien zum Deutschlandticket des Landes Sachsen-Anhalt. Darin heißt es, das Land gleiche nicht gedeckte Ausgaben im Zusammenhang mit der Einführung des Deutschlandtickets aus. Denn mit Mindereinnahmen in Milliardenhöhe hatten Bund und Länder vor der Einführung gerechnet und deshalb einen Geldtopf von 3 Mrd. Euro zur Verfügung gestellt, aus dem sich die Länder bedienen und das Geld auf ihre Kreise verteilen können.
Dass Stendal nun trotzdem mit einer zusätzlichen Belastung von 40.000 Euro argumentiert, hat folgenden Grund: Um die Mindereinnahmen in 2024 zu bestimmen – die Bund und Ländern ausgleichen – müssen zunächst die Einnahmen abgeschätzt werden, die es ohne das Deutschlandticket gegeben hätte. Dafür darf nur eine Tariferhöhung der Tickets von maximal acht Prozent angesetzt werden. In Stendal sollten die Preise 2024 aber um 15 Prozent steigen. Die Einnahmeausfälle, mit denen Stendal rechnet, sind also höher, als die mit denen Bund und Länder rechnen. Den Ausgleich dieser Differenz hält Stendal nicht vollständig für gesichert .
„Das 49-Euro-Ticket ist der Sargnagel der ÖPNV-Finanzierung“
Ob der Kreis dann zusätzlich eigenes Geld für den ÖPNV geben möchte, entscheidet er selbst – nicht nur in diesem Fall, sondern grundsätzlich. Wegen des Rechts der Kommunalen Selbstverwaltung kann der Bund hier keine Vorschriften machen. „Das ist alles freiwillig“, sagt Andreas Knie, Mobilitätsforscher vom Wissenschaftszentrum Berlin.
Das gerade populäre Deutschlandticket als „Vorwand“ für die generelle Debatte der ÖPNV-Finanzierung zu benutzen, findet er allerdings „frech“. „Da wurden demnächst ansteigende Kosten im ÖPNV schon einkalkuliert, mit dem Deutschlandticket hat das nichts zu tun“, sagt Knie. „Keine ländliche Kommune hat deswegen bis zum 30. April 2023 Mehrkosten.“ Anders sei das in großen Ballungsräumen wie Hamburg, wo die normalen Tickets teilweise mehr als doppelt so viel kosten wie das Deutschlandticket. Da werde schon jetzt nicht mehr jeder Euro kompensiert. In Stendal allerdings kosten manche Monatstickets weniger als 49 Euro.
Aus seiner Sicht ist das 49-Euro-Ticket ohnehin „nur der Nagel auf dem Sarg der ÖPNV-Finanzierung“. „Es muss immer mehr Geld in die Busse gesteckt werden, weil die gerade in ländlichen Gebieten hauptsächlich noch Schülerinnen und Schüler transportieren. Es gibt keinen ,Jedermann‘-Verkehr mehr“, sagt Knie Capital. „Dazu kommen die Unmengen an Geld, die in die Bürokratie fließen.“
Laut VDV sind viele Verkehrsunternehmen derzeit mit bis zu 20 Prozent gestiegenen Personal-, Kraftstoff- und Energiekosten konfrontiert. Wenn die Kosten steigen, gebe es drei Möglichkeiten zu handeln, erklärt Arnold vom VDV: „Man kann den Fahrplan einschränken, was nicht im Sinne von Klimaschutz und Daseinsvorsorge ist. Oder man kann den Tarif erhöhen, aber nicht um 20 Prozent und gerade sowieso nicht wegen des Deutschlandtickets. Also schießen die Kommunen Geld nach, auch wenn sie wegen anderer Belastungen ohnehin jeden Euro umdrehen müssen.“
Doch die Rettung oder der „Tod in Raten“?
Die 40.000 Euro, die Stendal zusätzlich hätte aufbringen müssen, mögen nicht viel erscheinen. Doch der Kreis sendet damit ein Zeichen, dass die Idee des Bundes im Kleinen nicht immer aufgeht. Knie vom WZB weiß von mindestens zehn weiteren Kommunen aus dem Westen Deutschlands, die wegen zu hoher Kosten ebenfalls über den Ausstieg aus dem Deutschlandticket nachdenken. „Das Deutschlandticket wird auch ohne Stendal funktionieren, auch wenn es uns schmerzt“, sagt Arnold. „Aber wenn noch mehr Landkreise aussteigen, wird das Fahrgäste verunsichern und das Ticket an Attraktivität verlieren.“
Das Land Sachsen-Anhalt hat nun einen Versuch unternommen, auf den Kreis Stendal zuzugehen und will mehr Geld zur Verfügung stellen. „Damit bewegt sich das Land mit einem großen Schritt auf die Kommunen zu“, teilt Stendals Landrat Patrick Puhlmann Capital dazu mit. Seiner Meinung nach sollten sie nun „den kleinen Schritt entgegengehen“ und das Deutschlandticket doch bis zum 30. April verlängern. In Stendal findet deshalb kurz vor Weihnachten noch ein Sonderkreistag statt, auf dem das Ticket erneut zur Disposition steht.
„Das Signal bleibt aber trotzdem“, sagt Puhlmann. „Es muss ab dem 1. Mai 2024 ein voll ausfinanziertes Konzept für das Deutschlandticket geben, sonst werden Landkreise nicht zustimmen, weil sie es finanziell schlicht nicht können. Ich gehe fest davon aus, es würde dann nicht nur der Landkreis Stendal sein.“
Mobilitätsforscher Knie meint, der Tod des Deutschlandtickets wird „in Raten“ passieren. Die Idee sei zwar gut und das werde allmählich auch allen klar. „Aber die Branche schafft es nicht, sich zu modernisieren“, sagt er. „Der Bund wäre bereit mehr Geld zur Verfügung zu stellen, aber nur wenn sich der Verwaltungsapparat verkleinert. Man könnte bei Fusionen wirklich mit einem Bruchteil der Kosten auskommen. Aber das muss die Branche selber beheben.“ Er fordert deshalb einen „Modernisierungsruck“ unmittelbar im neuen Jahr – rechtzeitig, bevor es um die weitere Finanzierung des Tickets geht.