Das Streikrecht ist heilig, wird durchs Grundgesetz geregelt: „Das Recht, zu Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet, Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig“, heißt es ein bisschen umständlich im Artikel 9.
Man kann also nichts dagegen sagen, wenn Claus Weselsky, Chef der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), mit Streik droht. Es ist sein Grundrecht. Ein hohes Gut. Und trotzdem: Der Mann hat jedes Maß verloren.
Immerhin hat er jetzt angekündigt, nicht über Weihnachten streiken zu wollen. „Die GDL hat noch nie über Weihnachten gestreikt und wird es auch dieses Jahr nicht tun“, sagte Weselsky der „Leipziger Volkszeitung“. „Die Weihnachtszeit ist eine friedliche – und das wird sie auch bleiben.“ Das ist eine gute Nachricht. Aber keine Entwarnung. Die GDL hat ihre Mitglieder zur Urabstimmung aufgerufen. Sie sollen über unbefristete Streiks abstimmen. 75 Prozent der Mitglieder müssen dafür stimmen. Wenn sie das tun, kommen harte Zeiten auf Pendler und Pendlerinnen zu.
Die Forderung der GDL ist unverschämt
Die GDL fordert 555 Euro mehr im Monat plus Inflationsausgleichsprämie. Die Wochenarbeitszeit soll von 38 auf 35 Stunden gesenkt werden. Bei vollem Lohn. Die Bahn sieht sich außerstande, diese Forderungen zu erfüllen. Sie hat elf Prozent plus Inflationsausgleich angeboten. „Befremdlich und völlig irrational“, seien die Forderungen der GDL. Das stimmt. Man könnte auch sagen: Die Forderung der GDL ist unverschämt. Selbst wenn man die Inflation und Preissteigerungen einkalkuliert, sind elf Prozent ein gutes Angebot. Davon können andere Branchen träumen. Außerdem scheint Weselsky gar nicht verhandeln zu wollen. Wie sonst ist es zu erklären, dass er gleich so eskaliert? Der Gewerkschaftsboss ist offenbar nur auf Krawall aus. Und verliert die gesamtgesellschaftliche Verantwortung aus dem Blick, die er als Gewerkschaftler auch hat.
Wegen der drohenden Klimakatastrophe müssten mehr Menschen auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen. Es ist ihnen derzeit nicht zu empfehlen. Nur 65 Prozent der Züge waren 2022 pünktlich. Im Jahr davor waren es noch über 75 Prozent. Ein Zug, der weniger als sechs Minuten verspätet ist, gilt als pünktlich. Und: Ausgefallene Züge werden nicht mitgezählt. 2022 fielen 40.000 Züge aus. Die Bahn ist in einem desaströsen Zustand. Wenn die Bahn nicht besser wird, werden die Leute weiter mit dem Auto fahren. Klimatechnisch ein No-Go. Das Netz müsste ausgebaut werden, in vielen Regionen haben die Menschen gar keine andere Möglichkeit, als mit dem Auto zu fahren.
Dass die Leute durchaus Bahn fahren wollen, zeigt das Deutschlandticket. Nach Angaben der Bahn ist die Zahl der Fahrgäste um ein Viertel gestiegen. Weselsky sorgt jetzt dafür, dass diese potentiellen Vielfahrer wieder verschreckt werden. Aller Sympathie für den Arbeitskampf zum Trotz: Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es dem GDL-Chef gar nicht um die Sache geht. Oder darum, neue Mitglieder zu werben. Es geht um ihn selbst. Er will sich ein Denkmal setzen. Weselsky geht nächstes Jahr in Rente. Nicht nur Pendler und Pendlerinnen werden aufatmen.
Dieser Text ist ursprünglich am 23. November 2023 bei stern.de erschienen. Er wurde aktualisiert.