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Kolumne Zu viele ungelöste Widersprüche bei Thyssenkrupp

Capital-Kolumnist Bernd Ziesemer
Capital-Kolumnist Bernd Ziesemer
© Martin Kress
Auf seiner Hauptversammlung präsentierte sich der Industriekonzern Thyssenkrupp mit Leichenbittermiene. Es fehlen überzeugende Lösungen für ein halbes Dutzend von existenziellen Problemen

Hauptversammlung 2020 von Thyssenkrupp in der Ruhr-Congress-Halle in Bochum-Grumme. Der amtierende Chef des Aufsichtsrats, Siegfried Russwurm, setzt zur Begrüßungsrede an – aber leider fehlen die letzten Seiten seines Vortrags. Eine kleine Panne, eigentlich nicht der Erwähnung wert, aber irgendwie typisch für einen Konzern, bei dem nun schon seit vielen Jahren nichts mehr so richtig klappt. Aber auch gar nichts. Natürlich soll künftig alles besser, alles anders werden. Das ist die Botschaft, die Russwurm und seine Übergangschefin Martina Merz am Freitag letzter Woche gern vermitteln möchten.

Aber die Vorstandsvorsitzende, erst im letzten Oktober vorübergehend für ein Jahr aus dem Aufsichtsrat an die Spitze des Unternehmens kommandiert, überzeugt nicht. Sie trägt ihre Rede mit einer derartigen Leichenbittermiene vor, dass man sich fast schon auf dem Begräbnis von Thyssenkrupp fühlt. Deshalb hören die Aktionäre den Appell, sich nun endlich „auf das Machbare zu konzentrieren“, wohl. Aber sie glauben nicht mehr, dass es auch gelingt. Der Aktienkurs rauschte nach der Rede der Chefin erst einmal um fast fünf Prozent in die Tiefe.

Sechs große Probleme bei Thyssenkrupp

Niemand spricht Martina Merz den Willen ab, es dieses Mal wirklich besser zu machen als all ihre Vorgänger. Sie beweist Mut und sie besitzt Sachkenntnis. Ohnehin wirkt die schwäbelnde Dame irgendwie wie die Inkarnation nüchternster Fachlichkeit – aber damit eben auch irgendwie fremd im Ruhrgebiet, wo Aktionäre und Beschäftigte eben auch ein paar Emotionen brauchen, wenn sie folgen sollen. Vor allem aber stößt das Publikum bei all den Reden auf allzu viele Widersprüche, die seltsam verknotet einer Lösung harren. Mindestens sechs davon gehen ans Eingemachte des Konzerns:

  • Erstens will Martina Merz spätestens im Mai eine Strategie präsentieren, aber sie danach nicht selbst umsetzen. Wie will man einen fähigen CEO für den Konzern gewinnen, wenn man ihm ein fertiges Konzept vorsetzt wie einst einem Krupp-Lehrling das Berufsschulheft?
  • Zweitens will Martina Merz demnächst ein Konzept für die überfällige Trennung von der Aufzugssparte vorlegen, mit den erhofften Milliarden aus dem Deal dann den Rest-Konzern entschulden, um wieder handlungsfähig zu werden. Aber wie will Thyssenkrupp den Ausfall des einzigen stabilen Gewinnbringers kompensieren?
  • Drittens will Martina Merz künftig auf das Stahlgeschäft setzen – das jedoch nach ihren eigenen Worten seit vielen Jahren (eigentlich sogar Jahrzehnten) über den ganzen Zyklus gerechnet nicht mehr seine Kapitalkosten erwirtschaftet. Mit welchem Zaubergriff, der all ihren Vorgängern noch nicht eingefallen ist, soll das künftig anders werden?
  • Viertens will Martina Merz künftig Thyssenkrupp als klimafreundlichen, bald schon CO2-neutralen Stahlerzeuger in Europa positionieren. Doch sie sagt im gleichen Atemzug, ob das gelinge, hänge nicht allein an Thyssenkrupp, sondern an der ganzen Branche und auch am Staat. Ein merkwürdiges Unternehmensziel, das man zwar postulieren, aber aus eigener Kraft gar nicht zum Erfolg führen kann.
  • Fünftens will Martina Merz ihre (noch nicht vorhandene) Strategie mit „vielen kleinen Schritten“ umsetzen, nicht mit einem „Big Bang“. Das hörte man fast wörtlich so schon von ihrem Vorvorgänger Heinrich Hiesinger. Warum soll diesmal gelingen, was in der Vergangenheit nicht gelungen ist? Braucht Thyssenkrupp nicht im Gegenteil einen großen Knall, damit alle aufwachen?
  • Sechstens will Martina Merz mit ihren Vorstandskollegen alles schneller, besser, sachgerechter umzusetzen, was nun einmal notwendig ist. Aber bisher sieht man von außen nicht, dass der Konzern tatsächlich Tempo aufnimmt. Vielleicht ist das sogar der größte Widerspruch von allen bei Thyssenkrupp.

Bernd Ziesemer ist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint jeden Montag auf Capital.de . Hier können Sie ihm auf Twitter folgen .

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