Es gab einen großen Plan bei Thyssenkrupp – und viele, viele kleine. Noch vor ein paar Wochen redeten Mitarbeiter des Essener Konzerns gern darüber. Der große Plan: Mit den 17 Mrd. Euro aus dem Verkauf der Aufzugssparte die Bilanz sanieren und den neuen Spielraum endlich wieder für kräftige Investitionen in den Stahl nutzen, den künftigen Kernbereich von „NewTK“ (internes Kürzel für den künftigen Konzern). Einen neuen Chef an die Spitze holen, damit die Interimschefin Martina Merz wie geplant in den Aufsichtsrat zurückkehrt. Einen neuen Anlauf starten für einen Zusammenschluss mit einem anderen Stahlkonzern, um das Geschäft auch langfristig wetterfest zu machen. In den nächsten Jahren Thyssenkrupp dann zum ersten klimaneutralen Stahlhersteller in Deutschland umbauen.
Und die vielen „kleinen Schritte, Einheit für Einheit“ (Merz)? Beispielsweise endlich die Digitalisierung angehen. Stolz redeten sie im Duisburger Norden, wo sich 300 Kilometer Schienennetz über das riesige Werksgelände von Thyssenkrupp Steel erstecken, noch Anfang März über die neue App. Nun brüllen die Lokführer und die Auftragsdisponenten nicht mehr mit ihren Sprechfunkgeräten gegen den Lärm an, sondern kommunizieren miteinander über die selbstentwickelte Software auf dem Smartphone.
Ein schönes Beispiel für die „Roadmap Digitalisierung“ des langjährigen Strategie- und kurzzeitigen Stahlchefs Premal Desai. Oder die ersten Erfolge gegen die „exzessive Bürokratie“ in der Essener Zentrale, wie es im Internet ein Mitarbeiter treffend nennt. Zum Beispiel im Einkauf, wo bisher „extrem behäbige“ Prozesse viel Geld kosteten.
Die Prognosen gelten nicht mehr
Doch dann kam der 8. März – und spätestens seitdem ist von dem großen Plan und auch von vielen kleinen Plänen kaum noch etwas übrig. An diesem Tag meldeten sich zwei Mitarbeiter im Zementanlagenbau in Beckum krank, weil sie sich mit dem Coronavirus infiziert hatten. Und im ganzen Land begann allmählich der Sturz in die große Krise.
Thyssenkrupp kann man seitdem mit einem Risikopatienten vergleichen, der bereits vor der Pandemie geschwächt ums Überleben kämpfte, gerade auf dem Weg aus der Klinik war, nur um nun erneut auf der Intensivstation zu landen. Der Konzern ist zugleich das Musterbeispiel für viele andere deutsche Unternehmen, die mit zu wenig Ertragskraft, zu vielen Mitarbeitern und einem wackligen Geschäftsmodell vor schweren Erschütterungen stehen. Eine „verlässliche Einschätzung“ des künftigen Geschäftsverlaufs sei „derzeit nicht mehr möglich“, meldete der Thyssenkrupp-Vorstand am 23. März in einer Ad-hoc-Mitteilung. Alle bisherigen Prognosen gelten nun nicht mehr.

Eigentlich wollte Martina Merz im Mai ihre neue Strategie präsentieren – und danach den Vorsitz des Vorstands abgeben. Nun bleibt sie mindestens drei weitere Jahre im Amt und statt einer Strategie gibt es ein „Sofortpaket Corona-Krise“. Ein neuer Anlauf für eine große Fusion im Stahlbereich? Unmöglich. Der Umbau zum klimaneutralen Konzern? Kann man sich vorerst nicht leisten.
„Jetzt geht es erst einmal um eins: Das Geld um jeden Preis zusammenhalten!“, sagt ein Aufsichtsrat: „Alles andere kann warten.“ Zwar sollen weiterhin 800 Mio. Euro an zusätzlichen Investitionen in den Stahlbereich fließen – aber gestreckt über sechs lange Jahre. Immerhin wackelt der Verkauf der Aufzugssparte angeblich nicht, wie man aus dem Konzern hört. Man habe sich vertraglich abgesichert und sogar einen Vertragsrücktritt wegen der Corona-Krise mit den Finanzinvestoren ausdrücklich ausgeschlossen. Sonst wäre Thyssenkrupp jetzt sowieso tot.
Die Krise frisst Kapital weg
Die Existenz des Konzerns aber sichert der Deal in der jetzigen Lage trotzdem nicht. Selbst wenn die eher glimpflichen Szenarien in der Corona-Krise eintreffen sollten, wird es eng. Die Stahlnachfrage kollabiert erst einmal. Und das 17-Mrd.-Euro-Polster ist nicht so dick, wie es auf den ersten Blick aussieht. Vor der Krise waren die Finanzschulden auf 7,1 Mrd. Euro gestiegen und das schwächliche Eigenkapital auf nur noch 1,9 Mrd. Euro gefallen.
Merz braucht einen Großteil ihrer neuen Einnahmen, um die Bilanz zu stärken und die sehr hohen Pensionslasten zu bedienen. Unter ganz normalen Umständen wäre trotzdem genug Geld übriggeblieben, um massiv in den künftigen Kernbereich Stahl und in andere hoffnungsvolle Geschäftsfelder zu investieren. Doch jetzt geht die Angst um, so ein Thyssenkrupp-Manager, „dass die Krise unser dringend notwendiges Kapital wieder wegfrisst.“

Im letzten Jahr verbrannte Thyssenkrupp im laufenden Betrieb bereits rund 1 Mrd. Euro. Als der Konzern Mitte Februar seine Zahlen für das erste Quartal des neuen Geschäftsjahrs 2019/20 vorlegte, stand ein weiteres Minus in den Büchern – vor allem im Stahl, der seit Jahren nicht seine Kapitalkosten verdient. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur eine kleine Fußnote in der offiziellen Präsentation zur Entwicklung der Corona-Krise in China, die man sich „weiter anschauen“ müsse.
Jetzt ist mit weiteren Verlustquartalen zu rechnen. Das Horrorszenario: Die stabilen Erlöse aus dem Aufzugsgeschäft fallen künftig weg, gleichzeitig verbrennen die übriggebliebenen Geschäftsfelder in der Krise noch viel mehr Geld als im letzten Jahr. Die Folge: Der Spielraum für neue Investitionen, der sich gerade erst geöffnet hatte, schließt sich mit jedem schlechten Monat wieder.
„Corona-Meetings“
Die großen Themen, mit denen sich die Manager jetzt in ihren Diskussionen in Essen beschäftigen, sehen ganz anders aus als noch vor fünf Wochen: Sparen wo es nur irgend geht; die Betriebsmittel jeden Tag im Auge behalten; noch mehr Personal abbauen als gedacht, aber die wichtigsten Facharbeiter unbedingt halten; Kurzarbeit im Konzern vorbereiten; notorische Verlustbringer wie etwa den überalterten Grobblechbereich loswerden. Und dabei geht es härter zur Sache als jemals zuvor bei Thyssenkrupp. Schon nahmen Stahlchef Desai und der Finanzchef des Konzerns, Johannes Dietsch, ihren Hut.
Und auch im Kleinen kümmert man sich nun um ganz andere Fragen als ursprünglich geplant. Ein Krisenstab in Essen organisiert zum Beispiel die Heimarbeit der Angestellten – kein leichtes Ding in einem Top-Down-Konzern, der bisher nicht gerade durch hohe Affinität zum Internet aufgefallen war.
Alle zwei Tag schalten sich die Vorstandsmitglieder mit den wichtigsten anderen Managern bei einem „Corona-Meeting“ zusammen. Statt sich wie früher um Millionengeschäfte zu kümmern, steht plötzlich „Nieß- und Hustenetikette“ auf der Tagesordnung. Wie sorgt man zum Beispiel für genug Desinfizierungsmittel am Tor 9 im Duisburger Süden, wo jeden Tag besonders viele Menschen ins Werk strömen und auch wieder heraus? Wie kommen Angestellte nach der Schließung der Betriebskantine an ein Mittagessen?
Lob für die Chefin
Bis hoch in den Vorstand gelangen solche ganz praktischen Fragen in diesen Tagen. Wer trotz Verbot im Ausnahmefall eine Dienstreise antreten will, braucht mindestens die Genehmigung eines Bereichsvorstands. Und manchmal muss sich sogar Martina Merz selbst mit dem fürchterlichen Kleinklein der Corona-Krise befassen. Bei Thyssenkrupp nennen sie es den „Task-Force-Modus“ – und keiner kann sich ihm entziehen, auch die Chefin nicht. Martina Merz, ohnehin eine schwäbische Pragmatikerin der aller trockensten Art, kommt damit bisher nicht schlecht zurecht. „Wir müssen uns auf das Machbare konzentrieren“, lautet einer ihrer Lieblingssätze, die man nun noch öfter hört als früher schon.
Aus den oberen Rängen vernimmt man einiges Lob für die Chefin – und auch aus den unteren. Selbst die Betriebsräte und Vertrauensleute der IG Metall, die in der Industrie als ganz besonders aufmüpfig gelten, ziehen momentan klaglos mit. Der Klassenkampf findet erst einmal nicht mehr statt. Am 19. März sagte Tekkin Nasikkol, der Chef des Stahl-Betriebsrats, die bereits geplanten Versammlungen in Hamborn und Beeckerswerth mit einem „herzlichen Glückauf!“ ab.

Eigentlich wollten die IG-Metaller dort neue Kampfmaßnahmen gegen den geplanten Personalabbau ausrufen. Doch wegen Coronavirus gibt es erst einmal keine Protestaktionen mehr. Selbst die radikalen Maoisten und Kommunisten, die über einigen Einfluss im Betriebsrat verfügen, stimmten nicht mehr gegen die Verschiebung der Veranstaltung in der Mercator-Halle.
Und am 25. März einigten sich die Arbeitnehmervertreter mit dem Vorstand sogar ohne langes Federlesen auf den Abbau von mindestens 3000 Jobs. Ob es mehr werden müssen, will man Monat für Monat gemeinsam prüfen. Man könnte es einen neuen Realismus nennen, den es früher nicht gab bei Thyssenkrupp.
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