Capital: Herr Schallmayer, Bundeskanzler Friedrich Merz hat sich für eine gemeinsame europäische Börse ausgesprochen. Als leitender Aktienstratege der Deka: Ist das eine gute Idee?
JOACHIM SCHALLMAYER: Ja, auf jeden Fall. Der europäische Finanzmarkt hat einen enormen Aufholbedarf, und das steht völlig außer Frage. Gerade in Deutschland ist der Kapitalmarkt kümmerlich, wenn wir uns Volumen und Neuemissionen anschauen. Wir fallen im internationalen Vergleich komplett hinten ab, wenn wir die Marktkapitalisierung in Relation zur Wirtschaftsleistung setzen. Insofern ist jede Idee, das zu verbessern, sehr willkommen – auch, weil wir privates Risikokapital brauchen, nicht zuletzt um die nötigen Investitionen in Deutschland zu tätigen.
Wäre Frankfurt der logische Ort für eine solche Börse?
Natürlich hätten wir hier gute Rahmenbedingungen dafür. Und für den Finanzplatz Frankfurt wäre das ein echtes Asset, neben der Aufsicht und der EZB wäre das ein ganzheitliches Ensemble. Andererseits haben wir auch eine starke Euronext in Amsterdam. Der Ort ist weniger entscheidend, vielmehr sind die richtigen Rahmenbedingungen für einen funktionierenden europäischen Finanzmarkt wichtig.
Ein altes Thema.
Ja. Aber so wie jetzt geht es nicht weiter. Wir haben viele tolle Innovationen und Start-ups, die aber wegen der schlechten Rahmenbedingungen hier und der unzureichenden Liquidität regelmäßig in den USA an die Börse abwandern. Das Gegenteil müsste geschehen. Europa ist ein riesiger Binnenmarkt. Es spricht doch alles dafür, hier einen großen Kapitalmarkt zu etablieren.
Wäre eine solche Börse denn ein Konkurrent zur Wall Street oder eher zur London Stock Exchange?
Soweit würde ich erst einmal nicht gehen. Wenn wir die Liquidität, Analyse und Rahmenbedingungen in Europa verbessern, gibt es kaum Gründe, als europäisches Unternehmen in den USA an die Börse zu gehen.
Was meinen Sie mit Analyse?
Wir haben keine ausreichende Tiefe bei Risikokapitalgebern, die sich intensiv mit kleinen und mittelgroßen Firmen beschäftigen – also solchen, die eigentlich reif genug für den Kapitalmarkt wären. Das ist in den USA ganz anders. Dort sitzt das Risikokapital diesen Unternehmen im Nacken. Zugegeben: Das ist ein großes Thema, das nicht von heute auf morgen besser wird. Jeder Schritt, der hier in die richtige Richtung geht und das fördert, ist zu begrüßen.
Dann aber ganz offen gefragt: Wie viel Utopie steckt in dem Vorschlag von Friedrich Merz?
Das muss man sehen. Ich gehe davon aus, dass Friedrich Merz ein aufrichtiges Interesse daran hat. Er kennt sich gut am Kapitalmarkt aus und weiß um die Bedeutung von internationalem Kapital für seine vielen Vorhaben. Und der Kanzler ist damit ja auch nicht alleine, Mario Draghi hat erst kürzlich den Investitionsbedarf Europas mit 1200 Mrd. Euro beziffert. Davon wird der Großteil von privaten Investoren finanziert werden müssen. Das kann nur mit einem starken europäischen Finanzplatz funktionieren.