Schon Ende September schien eine Insolvenz von Evergrande möglich. Was spricht jetzt für dieses Szenario?
Bislang hat Evergrande es anscheinend immer noch geschafft, die fälligen Zahlungen auf die Anleihen kurz vor Ablauf der Nachfristen zu bedienen. Die Tatsache, dass das wohl nun zum ersten Mal nicht der Fall war, lässt vermuten, dass die finanzielle Lage sich in den vergangenen Wochen weiter verschlechtert hat. Aus meiner Sicht machen weitere Faktoren ein förmliches Insolvenzverfahren jetzt noch wahrscheinlicher.
Welche sind das?
Zum einen dürfte inzwischen nach dem, was von staatlicher Seite in China verlautbart wird, nicht davon auszugehen sein, dass die Regierung den Konzern durch staatliche Hilfen retten will. Zum anderen wird offensichtlich gegen die Holding-Gesellschaft, die ihren Sitz auf den Kaiman Inseln hat, bereits ein Gläubigerantrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens vorbereitet.
Was heißt das für den Evergrande-Konzern?
Wenn die Holding-Gesellschaft für die Finanzierung der anderen Konzern-Unternehmen zuständig ist, könnte ihre Insolvenz dazu führen, dass auch sie insolvent werden. Außerdem haben Rating-Agenturen ihre Einstufung von Evergrande inzwischen auf ein Level herabgesetzt, das knapp über dem Insolvenzfall rangiert. Auch das dürfte es dem Konzern nicht gerade leichter machen, wieder Fuß zu fassen.

Für viele andere Gläubiger steht in der Causa viel mehr Geld auf dem Spiel. Warum halten viele sich bislang mit Fremdanträgen zurück?
Einen Gläubigerantrag zu stellen, ist per se nicht ganz unkompliziert. Bei Evergrande kommt hinzu, dass man im Konzerngeflecht diejenige Gesellschaft – und deren Geschäftssitz – ausmachen muss, gegen die sich der Insolvenzantrag richten soll. Nach internationalem Insolvenzrecht kann der tatsächliche Sitz dabei vom Register-mäßigen Sitz abweichen. Das gilt zum Beispiel, wenn der Mittelpunkt der wirtschaftlichen Interessen woanders verortet ist. Ausgehend davon ergibt sich die zuständige Jurisdiktion und das zuständige Gericht. Danach richtet sich dann wiederum die Frage, welche Voraussetzungen ein Gläubigerantrag erfüllen muss.
Was gilt es da zu beachten?
In den meisten Ländern sollte der Gläubiger eine Forderung gegen die konkrete Gesellschaft haben, für die er ein Insolvenzverfahren beantragt. Auch das ist in größeren Konzern-Strukturen nicht immer einfach zu beurteilen. Denn im Extremfall kann es bedeuten, dass Gläubiger mit großem zeitlichen und finanziellen Aufwand einen Insolvenzantrag gegen ein Unternehmen stellen, gegen das sie keine Forderungen haben. Je nach Rechtsordnung wäre der Antrag dadurch unzulässig. Darüber hinaus muss ein Insolvenzgrund festzustellen sein. Je nach Jurisdiktion zählen dazu in der Regel Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung. Welche Anforderungen an diesen Nachweis gestellt werden, ist ebenfalls je nach Rechtsordnung unterschiedlich.
Wie kann so ein Nachweis denn aussehen?
Es kann sein, dass der Gläubiger den Insolvenzgrund darlegen muss. Ohne Einsicht in die Bücher des betroffenen Unternehmens zu erhalten, ist das nicht ganz leicht. Es kann aber auch sein, dass dafür ein Verweis auf ausgefallene Zahlungen, Börsenmitteilungen über Zahlungsschwierigkeiten und Einstufungen der Rating-Agenturen ausreichen. In China muss ein Gläubigerantrag mit aussagekräftigen Dokumenten begründet werden – etwa, einem Nachweis, dass bis zum Stichtag X die Zinszahlung final fällig gewesen wäre. Gut ist zudem, wenn der Gläubiger nachweisen kann, dass die fällige Forderung angemahnt wurde. Bei Evergrande dürfte als Nachweis ausreichen, dass schon die Nachfrist für die Zinszahlung ausgelaufen ist.
Gilt diese Zurückhaltung denn nur bei Fremdanträgen im Ausland?
Für die meisten ausländischen Gläubiger ist ein Insolvenzverfahren in einer fremden Jurisdiktion schwer einschätzbar. Allerdings stellen auch in Deutschland überwiegend Finanzämter oder Sozialversicherungsträger die Gläubigeranträge für ein Insolvenzverfahren. Andere Gläubiger greifen nur sehr selten zu diesem Mittel.
Wie liefe ein Insolvenzverfahren denn in China ab?
Im chinesischen Insolvenzrecht gibt es drei Verfahrensarten. Dazu gehört die Liquidation, bei der das Unternehmen als Ganzes oder in Teilen verkauft wird und der Betrieb nicht fortgeführt wird. Dann gibt es das sogenannte Vergleichsverfahren, bei dem sich das Unternehmen mit den ungesicherten Gläubigern einigt – das ist im Fall von Evergrande aber eher unwahrscheinlich, da die Fronten inzwischen verhärtet zu sein scheinen und außerdem die Anzahl der Anleihegläubiger sehr groß ist, was eine Einigung zusätzlich erschwert. Wahrscheinlicher ist daher ein sogenanntes Reorganisations- oder Sanierungsverfahren, so wie man sie im deutschen Insolvenzrecht als Eigenverwaltungs- oder Schutzschirmverfahren mit Insolvenzplan kennt. Ich gehe weiterhin davon aus, dass Evergrande ein solches Verfahren anstreben dürfte, jedenfalls wenn das Unternehmen einen eigenen Insolvenzantrag stellen würde.
Warum?
Weil Evergrande so auf Antrag selbst am Ruder bleiben und den Geschäftsbetrieb fortführen kann. Gleichzeitig ist das Unternehmen aber dazu verpflichtet, einen Insolvenzplan aufzustellen, wie es mit dem Unternehmen künftig weitergeht. Der Insolvenzverwalter überwacht das Verfahren dann. Auch für Gläubiger kann dieses Verfahren von Interesse sein, weil grundsätzlich ja ein lebendes Unternehmen höhere Verwertungserlöse verspricht als dessen Zerschlagung.
Stichwort Gläubiger. Von einer Insolvenz von Evergrande wären mehrere betroffen. Wer kann denn Forderungen an den Konzern stellen?
Das ist in China tatsächlich gar nicht so viel anders als in Deutschland geregelt. Vor den Gläubigern muss aber gesichert sein, dass die Verfahrenskosten gedeckt sind. Diese Kosten haben Vorrang vor anderen Forderungen. Gleiches gilt für sogenannte Masseschulden, also Verbindlichkeiten, die der Insolvenzverwalter im Laufe des Verfahrens begründet hat, zum Beispiel, weil er Verwerter oder Steuerberater beauftragt.
Wie geht die Reihenfolge an Gläubigern?
Vorrang haben die Gläubiger, die Sicherheiten haben. Wer das bei Evergrande genau ist, ist bisher noch unklar. In Deutschland wären das zum Beispiel in einem ähnlich gelagerten Fall die Banken. Diese Sicherungsrechte bevorrechtigen aber nur in Höhe des für das Sicherungsgut erzielten Verwertungserlöses. Hätten die Banken also zum Beispiel Sicherungsrechte an den Evergrande-Immobilien in Form von Hypotheken, dann würden ihre Forderungen aus dem Veräußerungserlös der Immobilien vor denen der anderen Gläubiger bedient.
Was gilt denn für die übrigen Gläubiger?
An erster Stelle werden offene Lohnforderungen und Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer bedient – ein Privileg im chinesischen Insolvenzrecht, das das deutsche Recht nicht kennt. Was danach von dem Erlös überbleibt – in der Regel nichts oder jedenfalls nicht viel – würde in die Insolvenzmasse fließen, die dann auch an die übrigen Gläubiger ausgeschüttet wird. Darunter wären Banken ohne Sicherungsrechte, Zulieferer und Auftragnehmer, vermutlich auch die Immobilienkäufer, sofern sie nicht schon ein gesichertes Eigentumsrecht an der Immobilie haben, und Gläubiger von Anleihen und Darlehen. Alle diese Gläubiger erhalten dabei denselben Anteil auf ihre jeweilige Forderung.
Reicht die Insolvenzmasse angesichts dieser Menge denn überhaupt aus, um alle zu bedienen?
Zwar ist noch nicht klar, wie hoch der Anteil bei Evergrande sein wird, aber in Deutschland ist die ausgezahlte Quote meist im einstelligen Bereich zwischen drei und fünf Prozent. Was an die Gläubiger ausgeschüttet wird, steht eben auch erst am Ende des Verfahrens fest – und das dauert üblicherweise Jahre. Dass die Insolvenzmasse ausreicht, um alle Gläubiger zu 100 Prozent zu befriedigen, ist ein seltener Ausnahmefall und auch bei Evergrande nicht wahrscheinlich.

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