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Bernd Ziesemer Kriege gewinnt man in Fabrikhallen – dort kann die Ukraine mithalten

Capital-Kolumnist Bernd Ziesemer
Capital-Kolumnist Bernd Ziesemer
© Martin Kress
Viele behandeln Russland bereits wie den Sieger des Kriegs. Am Ende aber entscheiden industrielle Stärke und Innovation. Dabei wird Wladimir Putin überschätzt

Es sind Tage, in denen sich der Diktator in der Sonne seiner eigenen Macht spiegelt: Die Eroberung der Stadt Awdijiwka, die Ermordung seines verhassten Gegners Alexej Nawalny, das Attentat auf einen russischen Überläufer in Spanien, die Handlungsunfähigkeit der amerikanischen Politik, die depressive Stimmung im Lager seiner Gegner. Und doch entscheiden die Propagandaerfolge Wladimir Putins am Ende nicht über den Krieg, der nun schon seit zwei Jahren blutig in der Ukraine tobt. Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg gilt die Erkenntnis: Kriege gewinnt man zuerst in den Fabrikhallen und dann auf den Schlachtfeldern. Industrielle Stärke und technische Innovationen entscheiden über die Kampfkraft der Armeen.

Damit ist es in Russland nicht weit her – auch wenn es Putin gelungen ist, seine Wirtschaft über weite Strecken auf die Kriegsproduktion umzustellen. Die letzten Erfolge an der Front verdankt der Diktator nordkoreanischen Granaten, iranischen Drohnen, über China eingeschmuggelten Raketenbauteilen – und vor allem dem Tod seiner gnadenlos verheizten Soldaten. Bei den Kämpfen um 30 Quadratkilometer Terrain starben allein bei der Schlacht von Awdijiwka in vier Monaten 17.000 Russen und Söldner, mehr als in zehn Jahren russischer Kämpfe in Afghanistan. Rund 30.000 Verwundete landeten in den Lazaretten.

Der Westen liefert die notwendige Militärtechnik nicht ausreichend

Modernen westlichen Waffen kann Putin in Wahrheit wenig entgegensetzen. Taurus-Marschflugkörper wären in der Lage, die Nachschublinien zu zerstören – vor allem die Kertsch-Brücke, die Russland mit der besetzten Halbinsel Krim verbindet. Mit einer genügenden Zahl von F-16-Jets, mit denen ukrainische Piloten seit einigen Monaten trainieren, würde die Ukraine erstmals über genügend Luftunterstützung verfügen, um eine Bodenoffensive als „Gefecht verbundener Waffen“ zu führen wie es die Einsatzdoktrin der Nato seit Jahrzehnten vorsieht. Mit modernster Drohnentechnik könnte die Ukraine die Vorteile der massenhaften gegnerischen Angriffsschwärme ausgleichen. Das große Problem ist: Der Westen liefert diese Militärtechnik bisher entweder gar nicht oder in zu geringen Mengen.

Wo die Ukrainer selbst innovative Technik entwickelt haben, erringen sie Erfolge. Das zeigt sich vor allem im Kampf gegen die russische Schwarzmeerflotte. Mit ihren innovativen Marinedrohnen konnten die Ukrainer in den letzten Monaten die Kampfkraft der russischen Kriegsschiffe brechen, die Einheiten des Gegners aus dem ganzen Westen des Binnenmeers vertreiben und die Getreideexporte aus Odessa und den anderen Häfen wieder in Gang bringen. Diese Entwicklung ist die beste Bestätigung der These, die von dem früheren Oberkommandierenden Walerij Saluschnyj stammt: In der nächsten Phase des Kriegs konzentriert sich alles auf die Frage, wer über die bessere Technologie verfügt und wer nicht.

Inzwischen entwickeln die Ukrainer selbst zahlreiche Waffensysteme weiter, weil sie sich nicht allein auf die Unterstützung ihrer westlichen Partner verlassen wollen. Das gilt für Raketen mit langer Reichweite oder sogar für eine Technologie, über die in diesen Wochen jeder spricht: Künstliche Intelligenz. Alle Welt redet darüber, wie Putin seine ganze Wirtschaft auf den Krieg ausrichtet. Aber die Ukrainer machen das nicht nur auch, sie machen es besser. Es besteht kein Grund, die Ukraine abzuschreiben und Putin zu überschätzen – erst recht dann nicht, wenn sich auch die Europäer und vor allem die Amerikaner wieder berappeln.

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