Energieversorgung Wie lange reichen die Gasvorräte bei einem russischen Lieferstopp?

Die Bundesregierung hat die russische Gaspipeline Nord Stream 2 gestoppt
Die Bundesregierung hat die russische Gaspipeline Nord Stream 2 gestoppt
© IMAGO / ITAR-TASS
Die Bundesregierung stoppt das Genehmigungsverfahren für die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2. Die Gasversorgung hierzulande hängt jedoch in erster Linie von russischen Importen ab. Können sie ersetzt werden?

Nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine liegen die ersten Sanktionen auf dem Tisch: dazu gehört auch der Stopp der Erdgas-Pipeline Nord-Stream 2. Am Dienstagmittag verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz, dass das Zertifizierungsverfahren durch die Bundesnetzagentur unterbrochen werde. Bevor das Verfahren nicht abgeschlossen ist, kann die Pipeline nicht ans Netz gehen.

Um die Inbetriebnahme zu verhindern, hat Scholz einen Bericht an die Bundesnetzagentur zurückgezogen. „Das klingt zwar technisch, ist aber der nötige verwaltungsrechtliche Schritt, damit jetzt keine Zertifizierung der Pipeline erfolgen kann“, sagte Scholz. Im Gegenzug könnte Russlands Präsident Wladimir Putin allerdings seinerseits Sanktionen verhängen - und zum Beispiel die Gaslieferungen nach Deutschland und Europa aussetzen. Die wichtigsten Fragen im Überblick:

Wird Gas in Europa jetzt knapp?

Laut EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kommen zehn Prozent der gesamten Energieversorgung aus Russland. In einer Analyse hat die Commerzbank überschlagen, dass Europa bei einem sofortigen Lieferstopp von russischem Gas im Monat gut zwölf Milliarden Kubikmeter an Pipelinegas fehlen würden und knapp 1,5 Milliarden Kubikmeter an LNG-Flüssiggas.

Um diese Lücke zu schließen, müssten die Vorräte angezapft werden. Die Gasspeicher fassen derzeit 33,2 Mrd Kubikmeter Erdgas, was einem Füllstand von 33 Prozent entspricht. Normalerweise würde das reichen, um russisches Gas für zweieinhalb Monate zu ersetzen. Allerdings ist der Gasverbrauch zu dieser Jahreszeit höher als die Lieferungen – weshalb der Speicherstand bis Ende März weiter schmilzt und der Vorrat wohl nur für anderthalb Monate ausreichen würde.

Über den Sommer müssen zumindest die Privathaushalte kaum bis gar nicht heizen. Bis zum Herbst könnte Europa damit also über die Runden kommen, so Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. „Aber während des Sommers müßten die Gasvorräte eigentlich aufgefüllt werden, um für den nächsten Winter gewappnet zu sein.“

Wie lange reichen die Energievorräte in Deutschland?

Die Bundesregierung hält die Energieversorgung hierzulande vorerst für sicher, wie kürzlich der Spiegel berichtete. Selbst bei einem kompletten Lieferstopp durch Russland komme Deutschland über den Rest der aktuellen Heizperiode, heißt es in dem Bericht. Zusätzliches Gas müsste dafür nicht angefordert werden. Die Vorräte in den deutschen Speichern würden ausreichen, dazu könnte Flüssiggas über den Spotmarkt und über Kurzzeitverträge eingekauft werden.

Die Bundesregierung setzt dabei allerdings voraus, dass es keine Temperaturausreißer gibt, sondern sich das Wetter im langzeitlichen Durchschnitt bewegt. Bei einem länger anhaltenden Kälteeinbruch gilt dieses Szenario demnach nicht. Laut dem europäischen Verband Gas Infrastructure Europe liegt die Füllmenge in Deutschland derzeit bei rund 31 Prozent. Diese Reserve reicht für rund 75 Terawattstunden.

Werden Gas, Öl und Sprit bald teurer?

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) befürchtet, dass Gas hierzulande teurer wird. Es könnte sein, dass die Preise kurzfristig ansteigen. Das hänge auch davon ab, wie sich das Angebot entwickle. Er betonte allerdings auch, dass Deutschland „versorgungssicher“ sei. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) geht ebenfalls von weiteren Preissteigerungen aus. Laut DIW-Expertin Claudia Kemfert hängt das aber nicht mit dem Stopp von Nord Stream 2 zusammen, sondern grundsätzlich mit den schweren geopolitischen Verwerfungen.

Tatsächlich reagierten die Märkte heftig auf die Ankündigungen Russlands: Die Preise für Öl, Nickel und Aluminium schnellten sprunghaft in die Höhe. Besonders der Ölpreis hat Auswirkungen auf die Kosten für Heizöl und Sprit. Europäisches Gas verteuerte sich an den Rohstoffmärkten um mehr als zehn Prozent. Der Preis für ein Barrel Brent-Öl stieg um mehr als 2 Dollar auf 97,63 US-Dollar. Zeitweise erreichte der Preis sogar den höchsten Stand seit 2014. Ein Fass der amerikanischen Sorte WTI verteuerte sich um 3,60 Dollar auf 94,67 Dollar.

Wie Habeck verwies Kemfert auf die schleppende Energiewende, die nun beschleunigt werden müsse, auch um sich unabhängiger zu machen. „Die beste Antwort auf fossile Energiekriege ist die Energiewende mit einem Ausbau der erneuerbaren Energien und deutlichem Energiesparen“, so Kemfert im TV-Sender Phoenix.

Könnte Flüssiggas eine Alternative sein?

Die EU hat mehr als 25 größere Importterminals für das Flüssiggas LNG. Laut der Commerzbank könnten diese mit einer Kapazität von 215 Mrd Kubikmeter pro Jahr theoretisch knapp zwei Drittel des Importbedarfs decken.

Die LNG-Importe sind demnach zuletzt deutlich gestiegen und waren im Januar auf einem Rekordhoch. Laut Bundesverband der Energie und Wasserwirtschaft waren es in Europa mindestens 8,1 Millionen Tonnen. Wegen der hohen Preise ist die EU derzeit ein sehr attraktiver Absatzmarkt. Nach Angabe der Commerzbank-Analysten sind die Kompensationsmöglichkeiten dennoch beschränkt, unter anderem weil die Kapazitäten der Anbieter begrenzt seien. Ein dauerhafter Ersatz russischer Lieferungen durch LNG-Importe sei somit auf absehbare Zeit nicht realistisch.

Ist Nord Stream 2 für immer gestoppt?

Die 1230 Kilometer lange Pipeline ist fertig, es fließt aber noch kein Gas durch die Rohre. Wie lange sich die Inbetriebnahme der neuen Pipeline verzögert oder ob sie womöglich ganz ausgesetzt wird, sagte Kanzler Scholz nicht.

Bisher zieht die Regierung konkret nur einen Bericht zur Versorgungssicherheit an die Bundesnetzagentur zurück, womit der Prozess ausgesetzt wird. Die zuständige Abteilung des Wirtschaftsministeriums werde die Versorgungssicherheit neu bewerten und dabei berücksichtigen, „was sich in den vergangenen Tagen verändert hat“. Das Verfahren gehe jetzt „einen neuen Gang“, sagte Scholz. „Das wird sich sicher hinziehen, wenn ich das mal vorhersagen darf.“

Wirtschaftsminister Habeck ließ durchblicken, dass der Stopp des Zertifizierungsverfahrens für Nord Stream 2 bereits in den vergangenen Wochen und Monaten vorbereitet worden sei. Russland gab sich von der Sanktion unbeeindruckt.

Wer sind Deutschlands wichtigste Energielieferanten?

94 Prozent des deutschen Gasbedarfs werden durch Importe aus dem Ausland gedeckt. Aus heimischer Produktion kann Deutschland nur sechs Prozent des Gasverbrauchs decken. Die Produktion hier ist rückläufig.

Russland ist mit Abstand der wichtigste Erdgaslieferant für die Bundesrepublik. Vom russischen Staatskonzern Gazprom stammen 55 Prozent der Gaslieferungen. Norwegen deckt 31 Prozent des Bedarfs und die Niederlande 13 Prozent.

Wirtschaftsminister Habeck dürften diese Zahlen dazu veranlasst haben, noch einmal an die Dringlichkeit des Ausbaus der erneuerbaren Energien zu erinnern. Deutschland müsse sich unabhängig machen von der „Preis- und Kriegstreiberei“ anderer Länder, sagte er.

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