Als Chefvolkswirt der ING beschäftigt sich Carsten Brzeski schon seit Jahren mit Donald Trump, der im Januar seine zweite Amtszeit als US-Präsidenten antrat und seitdem die Weltpolitik und die Finanzmärkte mit seiner Unberechenbarkeit in Atem hält. Trumps herzlicher Empfang für seinen russischen Kollegen Wladimir Putin hat Brzeski schockiert.
„Es war ein Schockmoment, dass sich der US-Präsident dem russischen Präsidenten gegenüber einigermaßen unterwürfig gibt“, sagt der Ökonom im Interview mit Capital. Dazu zählten für ihn die Bilder, wie Trump klatschend auf dem Rollfeld steht und für Putin der rote Teppich ausgerollt wird – immerhin für dieser seit dreieinhalb Jahren einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. „Es muss was sein zwischen Trump und Putin“, mutmaßt der ING-Ökonom.
Für Brzeski stellt sich damit wieder einmal die Frage: „Was will dieser Präsident eigentlich?“ Immerhin sei der Worst Case nicht eingetreten, also ein Deal zwischen Trump und Putin mit vollendeten Tatsachen zu Lasten der Ukraine und möglicherweise Europas. „Mir scheint, einige Sachen haben Trump während des Treffens nicht gefallen“, sagt Brzeski. „Heute Abend wissen wir vielleicht ein bisschen mehr.“
„Europa kann nur reagieren“
Am Montagabend europäischer Zeit trifft Trump im Weißen Haus in Washington den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der von einer Reihe europäischer Politiker begleitet wird, darunter Bundeskanzler Friedrich Merz. „Der Ton und die Agenda werden in Moskau und in Washington gesetzt“, sagt Brzeski. „Europa kann nur reagieren in der Hoffnung auf Schadensbegrenzung. Der Druck auf Selenskyj wird hoch sein, auf irgendeinen Vorschlag Putins und Trumps einzugehen.“
Allerdings könne das Treffen auch „ein Rohrkrepierer“ werden, warnt der ING-Ökonom. Die Folge wäre dann, dass die Ukraine erneut von US-Geheimdienstinformationen abgeschnitten würde und die Amerikaner direkt oder indirekt über die NATO keine Waffen mehr liefern. „Es ist ein Szenario, dass der Krieg dann noch weiter zu Gunsten Russlands kippen kann“, sagt er. Durchaus denkbar sei auch ein anderes Szenario: „Es kann sein, dass wir uns kommende Nacht oder am Dienstagmorgen alle fragen, was eigentlich passiert ist und alles weitergeht wie bisher.“
Für die Kapitalmärkte ist die Lage laut dem Volkswirt schwieriger als noch vor einem oder zwei Jahre zu beurteilen. „Ein belastbares und glaubwürdiges Abkommen wäre marktrelevant. Geopolitische Risiken könnten dann langsam ausgepreist werden“, so Brzeski. „Eine wahrscheinliche Folge: Europäische Aktien würden steigen.“
„Mehr Schattierungen“
Allerdings sei die Marktreaktion nicht mehr so klar wie noch vor ein oder zwei Jahren zu prognostizieren. „Es gibt jetzt in allen Szenarien mehr Schattierungen.“ Dies betreffe die Frage von Gebietsabtretungen ebenso wie die Wirkungen des Wiederaufbaus der Ukraine.
Und selbst ein Eskalationsszenario, bei dem der Euro wohl fallen würde, bestünde inzwischen aus mehr Grautönen. „In diesem Fall wird die europäische Konjunktur mittel- und langfristig leiden, weil bei Investoren der Faktor Verunsicherung wieder stärker an Gewicht gewinnt.“