Die Angst vor den Mutationen des Coronavirus ist groß und lässt Bund und Länder auch vor zu schnellen Lockerungen zurückschrecken. Da bisher wenig Daten über das Ansteckungsrisiko, die Ausbreitungsgeschwindigkeit und die Effektivität der bisherigen Impfstoffe gegen die Mutanten vorliegen, ist schwer abzusehen, wie sich das Infektionsgeschehen in Deutschland entwickelt.
Einschätzungen über die künftige Entwicklung der Pandemie wurden deshalb zuletzt kritisch beäugt. Ein besonders prominentes Beispiel ist die Corona-Prognose von Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer internen Sitzung Mitte Januar. Laut focus.de befürchtete sie : „Wenn wir es nicht schaffen, dieses britische Virus abzuhalten, dann haben wir bis Ostern eine zehnfache Inzidenz.“ Schnell folgten kritische Kommentare auf die Aussage auch unter Verweis auf frühere „falsche Prognosen“ im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.
Diese Kritik „verdeutlicht eine durchaus weit verbreitete Unkenntnis der Entstehung, Probleme und Aufgaben von Prognosen“, bilanzieren die Experten der Unstatistik und schauen sich die zentralen Berechnungen und Probleme hinter der Oster-Inzidenz näher an.
Wie Merkels Prognose entstand
Grundsätzlich benötigt man eine Reihe von Daten zur Herleitung einer Prognose. Konkret auf die Oster-Inzidenz bezogen sind folgende Faktoren entscheidend:
- der Anteil der aktuell Infizierten in der Bevölkerung
- die Schnelligkeit, mit der sich die Viren
- der Reproduktionsfaktor des Virus
- die Höhe der Sieben-Tage-Inzidenz
- die Infektiosität der britischen Mutation B.1.1.7.
Verschiedene neuere Studien aus Großbritannien – darunter Bericht der Staatlichen Agentur „Public Health England“ – legen nahe, dass die Virusmutation B.1.1.7 ungefähr 35 bis 70 Prozent ansteckender ist als das ursprüngliche Virus. Da es bisher an ausreichend belastbaren Daten mangelt, sind Annahmen über das bisherige Infektionsgeschehen mit Mutationen die Grundlage. Angenommen, dass etwa 0,1 bis ein Prozent der Bevölkerung akut infiziert sei, die Viren sich exponentiell vermehren, der Reproduktionswert bei 1,1 und die Sieben-Tage-Inzidenz bei einem Wert 164 von liege, ergeben sich zwei Szenarien.
Das optimistische Szenario – die Virusmutation ist ca. 40 Prozent ansteckender und hat sich bei weniger Menschen ausgebreitet – würde bedeuten, dass bis Ostern ein Inzidenzwert von etwa 500 Infektionen je 100.000 Einwohner möglich ist.
Bei einem pessimistischen Szenario – mit der Annahme, dass die Virusmutation sehr viel ansteckender ist und viele bereits mit der neuen Mutation infiziert sind – liegt die Sieben-Tage Inzidenz bei etwa 3500 Infektionen je 100.000 Einwohner. Der Durchschnitt beider Szenarien entspricht damit in etwa der von Merkel genannten Prognose.
Daten-Qualität beeinträchtigt Aussagekraft
Aber: „Ein zentrales Problem der Prognose liegt in der mangelhaften Qualität der zugrundeliegenden Daten“, warnen die Experten der Unstatistik. Denn die Corona-Mutation B.1.1.7 wurde erst im November 2020 in Großbritannien entdeckt. Daher liegen bisher auch nur wenige Informationen zum Ausbreitungsprozess dieser Mutation vor. Das erkläre auch „die erhebliche Bandbreite der geschätzten Ansteckungsgefahr“ mit einer Differenz von mehr als 35 Prozent.
Gleichzeitig fehlen für Deutschland belastbare Informationen darüber, wie viele Personen sich bereits mit der neuen Variante angesteckt haben. „Diese Information ist jedoch für die Prognose der wahrscheinlichen Inzidenzzahlen zu Ostern zentral“, so die Experten der Unstatistik. „Entsprechend groß ist die Unsicherheit dieser Prognose.“
Abgesehen davon vernächlässigen viele Kritiker der Prognosen, dass diese immer nur auf bereits erhobenen also vergangenen Daten beruhen. Daraus sei aber eben nur ablesbar, wie sich eine Situation ohne Eingreifen weiterentwickeln würde.
Denn auf die Bekanntmachung einer Prognose folgen meist Reaktionen. Bei der Oster-Corona-Inzidenz bedeutet das: Entweder wird die Prognose nicht ernst genommen und der Inzidenzwert wird höher ausfallen oder die Maßnahmen werden verschärft und die Inzidenz fällt geringer aus. „In jedem Fall“, so schreibt die Unstatistik, habe Merkels Prognose „mehr oder weniger selbst dazu beigetragen, dass sie nicht stimmt.“
Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer und RWI-Vizepräsident Thomas Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen.
Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de .