Am Nachmittag des 8. April 2019, einem Montag, brach am Flughafen in Frankfurt am Main eine besondere Reisegruppe auf. Es waren fast ausschließlich Männer in dunklen Anzügen und gedeckten Krawatten. Eine Frau trug ihren hellen Mantel bis oben zugeknöpft. Die Teilnehmer kannten sich größtenteils gut, machten zusammen in Deutschland Geschäfte. Ihre Mission war heikel, sie wollten den Machthabern in ihrer alten Heimat einen Besuch abstatten und so auch ihre Loyalität gegenüber dem Regime bekunden.
Für ihr Projekt der Neuen Seidenstraße suchte die Führung der KPCh weltweit Verbündete. Bei dem knappen Dutzend Personen handelte es sich um eine Delegation der Deutsch-Chinesischen Industrie- und Handelskammer. Die Wirtschaftsvertreter hatten allesamt familiäre Wurzeln in China. Während der Nacht saßen sie alle in der Maschine, bevor sie in den Morgenstunden des 9. April in Peking ankamen. Ihnen blieb kaum Zeit für das Mittagessen, denn schon wenige Stunden später hatten sie einen ersten wichtigen Termin. Die deutsche Delegation wurde in der Abteilung für Einheitsfrontarbeit des Pekinger Kommunalen Parteikomitees empfangen. Bei der Einrichtung handelt es sich um einen regionalen Arm der mächtigen Organisation. In der chinesischen Hauptstadt hat aber auch diese nachgeordnete Struktur besonderes Gewicht. Das erste Treffen mit den Vertretern der KPCh direkt am Tag der Ankunft war eine Art Warm-up. Ähnlich vollgepackt mit Terminen verlief der zweite Tag in Peking. Vor allem drehte sich alles sofort wieder um politisch-strategische Inhalte. Und erneut machte die Gruppe aus Deutschland ihre Aufwartung in einer Einrichtung der Einheitsfront.
Diesmal trafen die China-Reisenden aus Frankfurt hochrangige Vertreter des Büros für Angelegenheiten der Überseechinesen der Abteilung für Einheitsfrontarbeit. Eingetütet hatte das Treffen sogar der Vizeminister der Einheitsfront-Abteilung höchstpersönlich, Tan Tianxing, der direkt an das Zentralkomitee der KPCh berichtet. Auf einem Foto überreicht der Kopf der deutschen Delegation, Zhang Xiangguo, einen tönernen Bierkrug mit Verzierungen und Bleideckel an den Chef des Büros. Hinter den beiden steht in großen weißen Zeichen auf blauem Grund der Ort des Treffens an die Wand geschrieben – das Büro für Angelegenheiten der Überseechinesen, eine Unterabteilung der Einheitsfront.
Der Chef redete nicht lange um den heißen Brei. Er sagte den deutschen Gästen klar, was er von ihnen erwarte. Der Parteikader sieht demnach in der Deutsch-Chinesischen Industrie- und Handelskammer eine Plattform, um die eigenen politischen Ziele voranzubringen, so ließen sich seine Worte zumindest verstehen. Die Organisation spiele eine wichtige Rolle für die Zusammenarbeit und den Kontakt mit Deutschland, die allerdings noch besser werden könnten. Entsprechend hoffe er auf „pragmatische Ergebnisse“ gerade in Bezug auf die Koordinierung und Aufstellung „chinesischer Gruppen“ in Deutschland und Europa. Denn es gehe darum, dass auch die Deutschchinesen ihren Beitrag zum Großprojekt des Staats- und Parteichefs leisten sollten, der Neuen Seidenstraße.
Ziel: „Menschliche Schicksalsgemeinschaft“
Dass dies in Deutschland nicht ganz so einfach sein würde, wussten die Besucher aus Frankfurt. Als die Gruppe nach Peking reiste, lief schon länger eine kritische Diskussion zum Projekt der Neuen Seidenstraße. Vordergründig pumpt China damit Hunderte Milliarden Euro in rund 60 Länder weltweit, um Autobahnen, Häfen, Brücken oder Schnellzugverbindungen zu bauen. In der Sprache der kommunistischen Propaganda ist von einer „menschlichen Schicksalsgemeinschaft“ die Rede, es soll das Bild beschworen werden, dass die Volksrepublik geradezu selbstlos helfen würde.
Richtig ist jedoch: Bei der Neuen Seidenstraße handelt es sich um ein knallhartes Machtinstrument, um weite Teile der Welt auf die chinesische Linie einzuschwören. Für die Investitionen müssen die „Partnerländer“ Milliarden an Schulden bei chinesischen Staatsbanken aufnehmen, um die Infrastrukturprojekte überhaupt erst stemmen zu können, was diese auf Jahrzehnte finanziell abhängig macht. Dazu strömen für die Bauarbeiten Tausende chinesische Architekten, Ingenieure und andere Experten in die Länder. Damit wird der Einfluss Chinas massiv ausgebaut, große Teile der Welt geraten in eine strategische Abhängigkeit. Am Ende der Vision steht ein Globus, der weitgehend wie China funktioniert – nur wird das den „Partnerländern“ nicht gesagt. Allerdings erahnen inzwischen immer mehr Nationen die wahren Ziele des Pekinger Regimes. Gerade in Südostasien und Afrika formiert sich Widerstand. Regierungen wurden wegen ihrer Unterstützung für das Projekt der Neuen Seidenstraße von ihren Bevölkerungen schon abgestraft und abgewählt. In Deutsch¬land hatte die Skepsis um das Jahr 2019 auch die großen Industrieverbände erreicht.
Trotzdem sagte die deutsche Delegation bei dem Treffen mit der Einheitsfront ihre Unterstützung zu. Zhang Xiangguo versprach, die Parteiführung in Peking könne sich darauf verlassen, dass die chinesischen Geschäftsleute in Deutschland „natürliche Partner, aktive Mitwirkende und umfangreiche Förderer der Neuen Seidenstraße“ seien. Im Übrigen habe die Deutsch-Chinesische Industrie- und Handelskammer „ihre ursprüngliche Absicht nicht vergessen“ und werde sich bemühen, „in dieser Hinsicht gute Arbeit zu leisten“, so Delegationsleiter Zhang bei dem Treffen vor ein paar Jahren.
Kurz nach den Osterferien 2024 postete Thomas Reichenbach an seine Kontakte im Karrierenetzwerk LinkedIn einen Satz, den er über die Feiertage in einem Podcast gehört haben wollte: „Fürchte dich nicht davor, täglich große Taten zu vollbringen.“ Wie groß seine Taten offensichtlich waren, zeigte sich wenige Tage später. Beamte des Bundeskriminalamtes nahmen den China-Experten in Bad Homburg fest. Er soll einen Spionagering aufgebaut haben, der im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit (MSS) vertrauliche Informationen für den chinesischen Geheimdienst in Deutschland beschafft hat.
Neben Reichenbach soll das Ehepaar Ina und Herwig F. aus Düsseldorf zu dem Agentennetz gehören. Professionell soll das Trio auf den ersten Blick harmlose Strukturen genutzt haben, um deutsche Hochschulen abzuschöpfen, wobei Reichenbach als Drahtzieher hinter den Aktivitäten gilt. Der Mann spricht perfekt Mandarin, hat länger in China gearbeitet, wo ihn der Geheimdienst MSS laut deutschen Ermittlern rekrutiert hat. Noch gibt es kein rechtskräftiges Urteil, es gilt also noch die Unschuldsvermutung. Für seinen Agentenführer, einen Mitarbeiter des MSS mit Sitz in China, soll Reichenbach immer neue Aufträge in Deutschland ausgeführt haben mit dem Ziel, Informationen „zu militärisch nutzbaren innovativen Technologien“ zu beschaffen, so der Generalbundesanwalt.
Bedient habe sich Reichbach dafür des Ehepaars F., die als Chefs des Unternehmens Innovative Dragon Limited (ID) firmierten. Bei der Firma handelt es sich um ein Beratungsunternehmen, das seit Jahren enge Verbindungen in die deutsche Wissenschaftsszene knüpft und Außenbüros in Schanghai und Düsseldorf unterhält. Alle drei Beschuldigten arbeiteten für Innovative Dragon Ltd., das seinen Hauptsitz offiziell in London hat. Im englischen Handelsregister ist Ina F. geboren 1956, als Direktorin eingetragen. Die Adresse der Firma ist nobel, mitten im Finanzdistrikt, der teuren City of London, nur wenige Meter von der St Paul’s Cathedral entfernt. Der mutmaßliche Agent Reichenbach war als Leiter Investor Relations für Innovative Dragon Ltd. tätig.
Uni Duisburg-Essen als Einfallstor
Als Vehikel und Tarnstruktur für ihre Spionage nutzte der Ring offenbar die Firma. „Diese dient als Medium zur Kontaktaufnahme und Zusammenarbeit mit Personen aus der deutschen Wissenschaft und Forschung“, teilte der Generalbundesanwalt mit. „So schlossen die Eheleute über ihre Firma ein Kooperationsabkommen mit einer deutschen Universität zum Wissenschaftstransfer.“ Bei der Einrichtung handelte es sich um die Universität Duisburg-Essen. Die Hochschule, an der auch eines der umstrittensten Konfuzius-Institute in Deutschland angesiedelt ist, gilt in Sicherheitskreisen als „Einfallstor für chinesische Dienste in deutsche Universitäten“.
Nach wenigen Tagen kamen noch weitere Kooperationen mit Hochschulen ans Tageslicht, die der Agentenring eingefädelt hatte. So bestätigten auch die Unis in Chemnitz und Stuttgart, mit Innovative Dragon Ltd. zusammengearbeitet zu haben. In Duisburg-Essen behauptet die Uniführung hingegen, dass „kein Kooperationsabkommen zum Wissenstransfer“ mit Innovative Dragon Ltd. abgeschlossen worden sei. Zwar habe es zwischen 2019 und 2021 gemeinsame Projektanträge für Fördervorhaben gegeben, die jedoch gescheitert seien.
Allerdings räumt die Hochschule ein, dass es seit 2017 „einen Kontakt“ zu dem Unternehmen gebe. Herwig F. einer der verhafteten drei mutmaßlichen Zuträger des chinesischen Geheimdienstes, hat sich demnach an der Universität mehrfach eingebracht. So trat er als Redner auf, schrieb ein Kapitel für einen Tagungsband und saß als Experte auf dem Podium. Es gab „informelle Beratung zum Thema Autonomes Fahren“ durch Innovative Dragon Ltd., und die Firma sponserte eine Univeranstaltung mit 1000 Euro. Auch traten Vertreter der aufgeflogenen Spionagefirma und Unipersonal bei „gemeinsamen Terminen auf dem Wissenschaftsforum“ auf. Dass die Verbindungen zwischen der Uni in Duisburg-Essen und dem Unternehmen der verdächtigen MSS-Agenten doch enger waren, als es der Hochschule recht sein kann, belegen geschäftliche Verbindungen zwischen beiden Einrichtungen. „Seit diesem Frühjahr ist einer der Lehrstuhlinhaber der Universität Duisburg-Essen als stiller Teilhaber mit fünf Prozent an einer neu gegründeten Firma beteiligt“, teilt die Hochschule mit. „Das Unternehmen wurde gemeinsam mit Personen aus dem Umfeld der Innovative Dragon Limited angemeldet.“
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Schon länger verfolgt Staats- und Parteichef Xi einen aggressiven Expansionskurs, wie bereits Taiwan und die Anrainerstaaten im Südchinesischen Meer schmerzlich erfahren mussten. Zunehmend geraten aber auch westliche Staaten ins Visier des Pekinger Regimes. In Australien und Kanada verfolgt die KPCh schon seit Jahren äußerst erfolgreich eine Politik der Unterwanderung. Bis in höchste Regierungskreise hatten die Kommunisten in beiden Ländern ihren Einfluss ausgebaut, sogar Spitzel und Einflussagenten in Regierungen installiert – deswegen mussten letztlich Spitzenpolitiker zurücktreten, Parlamentsausschüsse versuchten das Ausmaß der feindlichen Attacke zu ermitteln.
Nun stehen vor allem die Vereinigten Staaten und die Europäische Union im Fokus – und hier ganz vorne das reichste und einflussreichste Land der EU, Deutschland. Seit gut fünf Jahren wird die Gangart schärfer. Ständig eskaliert die chinesische Seite weiter, sogar mit dem Risiko, ernsthafte diplomatische Verstimmungen zu provozieren. Kritische Verbalnoten des Auswärtigen Amtes werden ignoriert. Immer eindringlicher warnende Berichte des Verfassungsschutzes lassen die Chinesen völlig kalt. Das Regime in Peking agiert in Deutschland inzwischen völlig skrupellos.
Selbst bis vor Kurzem noch unvorstellbare Operationen wie verdeckte Polizeiaktionen, direkte Einflussnahme in Bundestagsausschüssen oder die Diffamierung von deutschen Spitzenpolitikern in Berlin sind heute an der Tagesordnung. Die Schergen der KPCh machen keinen großen Unterschied mehr zwischen chinesischen und deutschen Gegnern, wovon Sinologen berichten können. Wer die Volksrepublik und ihre Spielregeln ablehnt, wird als Feind gesehen und muss nach der Logik des Regimes bekämpft werden. Längst ist eine großangelegte Unterwanderung Deutschlands und seiner Bevölkerung im Gang, die eine ganze Gesellschaft in absehbarer Zeit in den Würgegriff nehmen kann. Dem Großteil der Bevölkerung ist die gefährliche Entwicklung noch nicht bewusst, auch wenn immer öfter verstörende Details ans Licht kommen.
Transparenzhinweis: Markus Frenzel ist Investigativjournalist bei RTL Deutschland, zu der auch Capital gehört.
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