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Analyse Was der IS will

Der IS-Terror und die Folgen: Nach den Anschlägen von Paris könnte es neuen Schwung für eine Lösung des Syrien-Konflikts geben.

Der Horror des islamistischen Massakers von Freitagabend in Paris hat Europa vor Augen geführt, dass der Kampf gegen die Terrororganisation Islamischer Staat nicht auf die Schlachtfelder in Syrien und dem Irak begrenzt ist. Dennoch legen die Anschläge die Versäumnisse der westlichen Politik gegen den IS und nun auch der russischen Intervention auf brutale Weise offen.

„Die Folgen des Krieges treffen alle unsere Nationen“, sagte US-Außenminister John Kerry in Wien, wo Spitzendiplomaten wichtiger Staaten über einen Weg aus dem Syrien-Konflikt berieten. „Es ist Zeit, dass das Blutvergießen in Syrien endet.“ Kerrys russischer Amtskollege Sergej Lawrow fügte hinzu, er habe das Gefühl, dass die Zeit für eine „wirksame internationale Koalition“ gegen den IS gekommen sei. Doch nach Lage der Dinge ist diese Hoffnung verfrüht.

Mehr als viereinhalb Jahre nach Beginn des Krieges in Syrien, der nach vorsichtigen Schätzungen zu 300.000 Toten geführt und die halbe Bevölkerung des Landes vertrieben hat, und eineinhalb Jahre nach Ausrufung des IS-Kalifats in Syrien und dem Irak, bleibt die internationale Reaktion auf die daraus resultierende globale Gefahr zersplittert und wenig effektiv. Im besten Fall lässt sich feststellen, dass der IS bislang in seinem Kernterritorium im Norden und Süden Syriens und dem Norden und Westen des Irak eingedämmt wurde. Zudem führt die totalitäre Brutalität dieser sunnitischen Extremisten dazu, dass jeder Versuch, in die nahe ihres Territoriums gelegenen kurdischen oder schiitischen Gebiete vorzurücken, in der Regel zurückgeschlagen wird.

Diese Rückschläge sind möglicherweise ein Teil der Erklärung für die jüngste Serie von Anschlägen außerhalb seines Territoriums, für die der IS die Urheberschaft reklamiert: vom Absturz eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Toten Ende Oktober, der möglicherweise von einer Bombe an Bord verursacht wurde, bis zum Selbstmordanschlag in Beirut am Donnerstag, bei dem 43 Menschen in einer Hochburg der schiitischen Hisbollah im Süden der Stadt ums Leben kamen. Und nun, noch weiter entfernt, das Gemetzel in Paris mit bislang 132 Todesopfern.

In Paris haben die Dschihadisten klar gemacht, dass sie Vergeltung üben für Frankreichs Intervention in Syrien und dem Irak. Einer der Mörder in der Bataclan-Konzerthalle soll nach Angaben von überlebenden Besuchern gesagt haben, dies sei ein Gefühl, wie es die Syrer und Iraker jeden Tag ertragen müssten. Und in seinem Bekennerschreiben warnte der IS, dass „der Geruch des Todes ihre (französischen) Nasen nicht verlassen wird, solange sie an ihrer Kreuzfahrerkampagne festhalten“.

Vergeltung als Motiv

Rache ist zudem ein Tel der Erklärung für die Anschläge in Beirut und über dem Sinai. Das entscheidende Eingreifen der vom Iran unterstützten libanesischen Hisbollah-Miliz in Syrien ist einer der Gründe, warum Baschar al-Assad immer noch im Amt ist – auch wenn er nur noch Präsident eines schrumpfenden Rumpfstaates ist. Russland, neben dem Iran der wichtigste Verbündete des Assad-Regimes, stürmte im September in die Region. Seine Kampfjets haben bislang vorrangig Anti-Assad-Rebellen angegriffen, die nicht mit dem IS verbündet sind.

Allerdings versteht sich der IS als der einzige wirksame sunnitische Gegenspieler der vom Iran gestützten schiitischen Achse, die von Bagdad bis Beirut und in die Golfregion reicht. Der russische Präsident Wladimir Putin hat Russland durch sein Eingreifen zugunsten der schiitischen Kräfte in die Schusslinie des Islamischen Staats gerückt – auch wenn sein Hauptziel war, Rebellen ins Visier zu nehmen, die sowohl gegen das Assad-Regime als auch gegen das IS-Kalifat kämpfen.

Frankreich wiederum war der engste Verbündete im US-geführten Luftkrieg gegen den IS. Französische Kampfjets haben in den vergangenen Monaten Angriffe gegen Dschihadisten sowohl im Irak als auch in Syrien geflogen, während andere vermeintliche Unterstützer dieser Koalition wie die Türkei, Kanada, Jordanien und Saudi-Arabien wegbrachen.

Solidarität mit Frankreich: Nach den Anschlägen in Paris zeigte sich das Brandenburger Tor in Tricolor-Farben
Solidarität mit Frankreich: Nach den Anschlägen in Paris zeigte sich das Brandenburger Tor in Tricolor-Farben
© Getty Images

Doch die Pariser Anschläge vom Freitag sind nun eine neue, tödliche Waffe im Arsenal des IS. Im Gegensatz zu dem gescheiterten Angriff in einem TGV-Zug in Nordfrankreich im August, als ein einzelner bewaffneter Islamist von Passgieren überwältigt werden konnte, aber auch zu dem brutalen Massaker in der Redaktion der französischen Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ im Januar war dieser Anschlag hochgradig koordiniert. Er ähnelt am ehesten den Angriffen der pakistanischen Terrororganisation Lashkar e-Taiba auf verschiedene Hotels im indischen Mumbai im November 2008, als 174 Menschen starben.

Die Entscheidung der IS-Führung, jetzt zuzuschlagen, muss einer taktischen Logik folgen. Es gibt Spekulationen, dass es sich um eine Antwort auf den US-Luftschlag in Rakka in der vergangenen Woche handelt. Bei dem Angriff auf die IS-Bastion in Syrien starben vier Führer der Organisation, darunter Mohammed Emwazi, ein in Kuwait geborener britischer Staatsbürger, der als „Jihadi John“ berüchtigt war.

Für noch wahrscheinlicher halten einige arabische und westliche Experten, dass der IS eine Präventivstrategie verfolgt. Tatsächlich gibt es Anzeichen, dass die USA eine Offensive gegen Rakka vorbereiten, bei der ihre Luftwaffe das Vorrücken von in erster Linie syrischen Kurdenmilizen am Boden unterstützt. Das Pentagon hat im vergangenen Monat bestätigt, dass die US-Armee aus der Luft 50 Millionen Tonnen Munition für die Kurden geliefert hat. Zugleich wurde bestätigt, dass auf der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik amerikanische Erdkampfflugzeuge vom Typ A10 Warthdog stationiert wurden. Bislang hat der Vormarsch auf Rakka noch nicht begonnen. Aber ein von US-Jets unterstützter Angriff irakischer Peschmerga-Kämpfer auf Sindschar hat bereits die Nachschublinien zwischen Rakka und der vom IS im Sommer 2014 überrannten Stadt Mossul im Nordirak unterbrochen.

Es ist ein Paradox der IS-Strategie, dass die teuflische Attacke in Paris als Entlastungsangriff dienen könnte und zugleich als Provokation, um mehr „Kreuzfahrer“ in den Konflikt hineinzulocken. Es ist der Versuch, den Krieg sowohl vor der eigenen Haustür als auch fern der Heimat zu intensivieren – allerdings nach den eigenen Regeln.

Diese Taktik ist nicht neu. Al-Kaidas Anschläge in New York und Washington an 9/11 wurden nach einer ähnlichen Logik geplant. Dahinter steckt eine Art islamistische Version des dritten Newtonschen Gesetzes: Jede Aktion provoziert eine Reaktion. Ayman al-Zawahiri, der Nachfolger von Osama bin-Laden an der Spitze von al-Kaida, hat sich vom IS distanziert. Aber die neue dschihadistische Avantgarde funktioniert nach der gleichen dialektischen Logik: Sie will nicht nur eine Reaktion des Westens provozieren, sondern eine Überreaktion, die ihr hilft, neue Rekruten unter ihren schwarzen Bannern zu versammeln.

Zwei Gruppen von Terror-Rekruten

In der Sichtweise der Dschihadisten war diese Strategie erfolgreich, indem der frühere US-Präsident George W. Bush auf die Al-Kaida-Anschläge 2001 mit der Invasion im Irak und dem Sturz von Saddam Husseins sunnitischem Regime reagierte. Die US-geführte Besatzung und die von der schiitischen Bevölkerungsmehrheit dominierte Regierung der Post-Saddam-Ära entwickelten sich zu einer Rekrutierungshilfe für die Dschihadisten. Daraus erwuchsen die Vorläufer des IS, der sich auch auf die verbliebenden Strukturen der unter Saddam regierenden Baath-Partei stützte.

Auch wenn die große Mehrheit der sunnitischen Muslime dem IS feindlich gesinnt ist, können die Islamisten immer noch auf zwei große Gruppen potenzieller Rekruten setzen: verzweifelte Flüchtlinge an den syrischen Grenzen und unzufriedene Muslime in Europa. Die derzeitigen auf Luftschlägen basierenden Ansätze der US-geführten Koalition sowie der von Russland geführten schiitischen Achse helfen keiner dieser beiden Gruppen.

Zusätzlich zu den vielen Millionen Flüchtlingen im Libanon, in Jordanien und der Türkei kommen noch sieben bis acht Millionen Vertriebene innerhalb Syriens. Ihnen fehlen Orte, an denen sie halbwegs sicher sind – insbesondere seitdem die russischen Luftschläge den verbliebenen Korridor zwischen dem Assad-Regime und dem IS ausradieren. Verzweiflung und das Gefühl, verraten worden zu sein, könnte einige von diesen Binnenflüchtlingen dem Islamischen Staat in die Arme treiben.

Doch diese Gruppe ist nicht die einzige mögliche Reservearmee der Dschihadisten. Frankreich ist Europas größter Exporteur von freiwilligen Kämpfern für den IS. Nach vorsichtigen Schätzungen europäischer und arabischer Sicherheitsbeamten sind es fast 600, von denen die Hälfte wieder nach Hause zurückgekehrt sein soll.

Diese islamistische Fremdenlegion dient verschiedenen Zwecken. Zum einen gibt es Terroristen vom Typ „einsamer Wolf“, häufig über das Internet radikalisierte Einzeltäter, die in den Ländern zuschlagen, in denen sie leben. In Syrien, dem Irak und Libanon hat der IS zudem häufig ausländische Selbstmordattentäter eingesetzt, um als Vorhut den Weg für seine eigenen Kämpfer freizubomben. Und nun gibt es, drittens, Sprengstoffangriffe in ausländischen Metropolen nach dem Muster von Mumbai und Paris.

Ein IS-Kämpfer schwenkt in einem erbeuteten Jagdflugzeug die Fahne der Terroristen
Ein IS-Kämpfer schwenkt in einem erbeuteten Jagdflugzeug die Fahne der Terroristen
© Getty Images

Der Nährboden dafür ist ein Prozess der kulturellen Entfremdung unter den Kindern und Enkeln einiger muslimischer Einwanderer, die mit der Kultur ihrer Herkunft fremdeln, sich aber nicht in die Gesellschaften integriert fühlen, in denen sie leben. Weder Frankreich mit seinem jakobinischen Credo, dass jeder ein voll assimilierter Staatsbürger werden kann, noch Großbritannien mit seinem Laisser-faire-Ansatz, nach dem einige migrantische Communities in einer Art Parallelkultur leben, ist es gelungen, eine erfolgreiche Formel für die Integration zu finden. Dies führt dazu, dass eine kleine Minderheit der dortigen Muslime den Verlockungen islamistischer Ideologen erliegt, die es verstehen, gesellschaftliche Outsider zu Eiferern zu machen, die sich ausschließlich über die Religion definieren.

Die Islamisten zeichnen ein Bild des Islams, der von äußeren Kräften bedroht ist, aber niemals besser verteidigt wurde als unter dem neuen Kalifat, das erfolgreich zurückschlägt. Während al-Kaida die Größe des Islam in vergangenen Zeiten propagierte, arbeitet der IS an dem Mythos einer stahlharten sunnitischen Bewegung, die es sowohl mit den westlichen „Kreuzfahrern“ als auch mit den schiitischen Götzenanbetern aufnimmt. Zur Mobilisierung dient dabei auch der Nukleardeal zwischen dem Westen und dem schiitischen Iran vom vergangenen Sommer, der in der IS-Propaganda als teuflischer Pakt dargestellt wird.

Die Propaganda des Islamischen Staats übersteigt Geografie und Zeitrechnung, sie betont die Ankunft eines Messias (Mahdi), des globalen Triumphs des Islam und das Ende aller Tage – wobei all dem in apokalyptischer Tradition Vorboten wie die Zerstörung Syriens vorausgehen. Die Tatsache, dass der Himmel über Syrien voll von Kampfflugzeugen westlicher und anderer Interventionsmächte ist, passt hervorragend zu diesem Narrativ.

Die Diplomaten, die in Wien einen Ausweg aus dem Syrien-Desaster suchen, müssen eine Menge Differenzen überbrücken – obwohl US-Außenminister Kerry und Russlands Chefdiplomat Lawrow die Anschläge in Paris als möglichen Katalysator für ein gemeinsames Vorgehen zu sehen scheinen. Die Gespräche in Wien haben zumindest in der Rhetorik Fortschritte gebracht, wie syrische Zivilsten besser geschützt werden können, insbesondere vor den Fassbomben des Assad-Regimes, die viele Syrer in die Arme des IS oder außer Landes treiben. Die EU ist bereit, mehr Geld bereitzustellen, um Unterkünfte und medizinische Versorgung für Flüchtlinge in den Nachbarstaaten zu finanzieren. Mehr Geld soll auch in Bildung fließen, um das Entstehen einer „lost generation“ von Syrern zu verhindern.

Alle internationalen Akteure stimmen überein, dass der Islamische Staat die klare und unmittelbare Bedrohung ist. Aber nicht jeder handelt entsprechend. Russland greift weiter Rebellen an, die nichts mit dem IS zu tun und von den USA, der Türkei, Saudi-Arabien und Katar gestützt werden. Der Nato-Partner Türkei fürchtet weniger den IS als das Szenario, dass die Unterstützung der USA und der EU für die Kurden dazu führt, dass die türkischen Kurden in ihrem Streben nach Autonomie gestärkt werden.

Lehren aus dem Irak-Desaster

Die jüngste Einbeziehung des Iran in die diplomatischen Bemühungen weckt bei manchen Verhandlungspartnern die Hoffnung, dass die Gespräche nun ein Potenzial haben, das es bei früheren diplomatischen Anläufen nicht gab. Allerdings gibt es bislang kein Zeichen einer Entspannung zwischen dem schiitischen Iran und der sunnitischen Vormacht Saudi-Arabien, die zu einem Syrien-Deal und damit einem Ende der religiösen Stellvertreterkriege in der Region führen könnte. Irans Einmischung in arabischen Ländern wie dem Irak, die sich nach der US-Invasion dort verstärkt hat, hat die absolutistischen Kräfte des Wahhabismus und die Abneigung gegenüber den Schiiten verschärft. Dies teilt Riad mit dem IS. Nach Angaben westlicher Diplomaten haben saudische Verhandler in Wien gefordert, den in den 80er-Jahren in Afghanistan gekämpften Dschihad gegen die Sowjetunion in Syrien zu wiederholen.

Dennoch scheint der Wien-Prozess der größte Hoffnungswert zu sein, dass die externen Akteure nach Paris zu dem Schluss kommen, dass der Preis für ein uneinheitliches Vorgehen in Syrien zu hoch ist. Eine Einigung müsste einen Konsens über die Zukunft des Assad-Clans beinhalten – wobei Russland und Iran Assad als legitimen Herrscher betrachten, während ihn die USA, Frankreich und Großbritannien als Hauptquelle für den sunnitischen Extremismus betrachten, wenn auch mit abnehmender Entschlossenheit.

Die Lösung, so sagt es ein türkischer Diplomat, besteht darin, aus der Entwicklung im Irak zu lernen. Dort hatte die US-Besatzung die kompletten Strukturen des Baath-Staates entfernt. In Syrien sollten dagegen die Institutionen wie die Armee neben den wichtigsten Kräften der Rebellen bewahrt werden. Gemeinsam könnten sie es mit dem IS aufnehmen. „Wir unterscheiden zwischen dem Assad-Clan und dem Staat“, sagt der türkische Beamte. „Wir haben eine Liste von 30 bis 40 Leuten innerhalb des Regimes, die kein Blut an ihren Fingern haben und die ein Teil von Syriens Zukunft sein können.“ Syriens Zukunft, das zeigen die Anschläge von Paris, entscheidet sich auch in Europa.

Copyright The Financial Times Limited 2015

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