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Russland-Sanktionen Warum wir auf einen Gas-Boykott verzichten sollten

Demonstranten in Hamburg fordern einen Boykott von russischem Erdgas
Demonstranten in Hamburg fordern einen Boykott von russischem Erdgas
© IMAGO / Joerg Boethling
Die Konfrontation mit Russland ist hochexplosiv. Wir sollten sie mit Fantasien über Gas-Boykotte nicht weiter anheizen. Der Kollaps der russischen Wirtschaft steht ohnehin bevor

Zur großen Solidarität, in all die Hilfe, den Einsatz und das Entsetzen hat sich ein weiterer Ton gemischt, und er wird lauter. „Frieren für den Frieden“, lautet die Formel, die auch auf vielen Demonstrationen zu hören war. Wahlweise auch „Frieren für die Freiheit“. Die Botschaft: Wir sollen nicht warten, bis Russland das Gas abdreht. Wir sollten es tun, und zwar sofort, damit unsere Euro und Dollar nicht Putins Krieg finanzieren. Kein Öl für Blut. Das bekommen wir schon hin mit Windrädern, 16 Grad Raumtemperatur und etwas mehr Radfahren.

Solche Forderungen sind gut gemeint und ein moralisch richtiger Impuls. Sie sind aber nicht zu Ende gedacht, naiv – und hochgefährlich. Mitunter wirken sie wie ein postheroisches Kriegsgeheul, weil sie einen Konflikt in einer sehr gefährlichen Lage zusätzlich anheizen. Sie werden zudem flankiert von eilig hingeworfenen wissenschaftlichen Berechnungen, etwa von den Beratern der Leopoldina, dass ein Gas-Boykott „handhabbar“ sei. Im Kanzleramt wundert man sich dieser Tage über all die „Couch-Strategen“, die sich schon beim Thema Swift überboten hätten. Solche Szenarien seien „Quatsch“. Schon vor dem Krieg hieß es, das Russland-Geschäft sei nur ein paar Prozent unseres Handels. Nun sehen wir die Kettenreaktion.

„Wir sind abhängig“

Ein Stopp von Öl und Gas würde, das betet Robert Habeck zu Recht rauf und runter, schwerste wirtschaftliche Verwerfungen nach sich ziehen, die die Einbrüche in der Corona-Pandemie wie Betriebsferien aussehen lassen würden. Es geht gar nicht ums Heizen, viele Fabriken müssten schließen, manche für immer. Ein Drittel der Energie in der Industrie wird aus Erdgas gewonnen. Deutschland könnte zwar das Flüssiggas LNG auf allen Weltmeeren zusammenkaufen und auch absurde Preise zahlen, aber viele europäische Länder nicht. Schon kurz nach Amtsantritt hat Olaf Scholz durchrechnen lassen, wie man Rohstoffe aus Russland ersetzen könnte. Das Ergebnis: „nicht substituierbar“. Und: „Wir sind abhängig.“ Der Ersatz kann und sollte allenfalls mittelfristig erfolgen.

Es gibt noch ein weiteres Argument: Wir haben bereits beispiellose Sanktionen gegen Russland verhängt, die in wenigen Wochen zu einem Kollaps der russischen Wirtschaft führen dürften. Putin hat sie bereits als „eine Art Kriegserklärung“ bezeichnet.

Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze sagt, der Westen habe durch Waffenlieferungen und Sanktionen bereits in den Krieg eingegriffen. „Die Situation ist extrem gefährlich, unüberschaubar und unberechenbar.“ Vor allem die Sanktionen gegen die russische Zentralbank hätten eine neue Dimension. „Ich kann mich an keinen Moment in meinem Leben erinnern, in dem ich mehr Angst gehabt hätte, als das Wort Zentralbank fiel.“

Hinzu kommt der Massenexodus von inzwischen über 300 Unternehmen, die ihre Geschäfte auf Eis gelegt haben oder sich ganz zurückziehen. Tausende junger Russen fliehen nach Finnland, ins Baltikum oder sogar Armenien, das Land verliert seine Talente. Die Drohung Putins, ausländische Fabriken notfalls zu enteignen, wird Russland um Jahrzehnte zurückwerfen. Seine ganzen Dekrete sind völlig hilflos. Moskau nimmt Dollar und Euro mit Öl und Gas ein, kann sich aber nichts mehr davon kaufen. Es gibt Prognosen, dass dieser Krieg das gesamte Wachstum von Putins Regentschaft ausradiert.

Moskau ist schon in die Ecke gedrängt, und wir wissen nicht, wie Putin in einer Endgame-Situation reagiert. Angriffe wie auf den Stützpunkt nahe der polnischen Grenze zeigen, wie nahe wir an einer viel größeren Konfrontation sind. Wir sollten alles tun, den Krieg einzudämmen und nicht eskalieren zu lassen. Und auch zu diesem Russland muss, so schwer es fällt, immer die Tür offen bleiben. 

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