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Brain Drain Warum es viele russische IT-Fachkräfte nach Georgien zieht

Touristen spazieren über die Friedensbrücke in Tiflis
Touristen auf der Friedensbrücke in Tiflis: Die georgische Hauptstadt ist für viele russische IT-Fachkräfte erster Anlaufpunkt, wenn sie ihr Land wegen des Ukrainekriegs und der Sanktionen verlassen
© Tako Robakidze/Bloomberg
Wegen des Ukrainekriegs verlassen viele russische IT-Spezialisten ihr Land. Für die meisten ist Georgiens Hauptstadt Tiflis der erste Zufluchtsort. Nicht immer sind sie dort willkommen und fraglich ist, ob sie bleiben – denn IT-Fachkräfte sind weltweit begehrt

Dmitri Klimenko legt letzte Hand an seinen neuen Nachtclub im zentralen Wake-Park von Tiflis. Er soll einige der Zehntausenden gestrandeten Russen, Weißrussen und Ukrainer anziehen, die in den letzten Monaten nach Georgien geflohen sind. Der erfahrene Betreiber von sieben Nachtclubs, die er im Laufe der Jahre in seiner Heimatstadt Nowosibirsk eröffnet hatte, verließ Russland am 7. März, als der Einmarsch von Präsident Wladimir Putin in der Ukraine das politische Klima in seiner Heimat zusehends verdüstert hat.

„Das ist das, was ich kann“, sagt Klimenko, als erst ein und dann ein zweites Paar neugieriger Russen vorbeikommt, um sich sein neuestes Projekt „The Balance“ anzuschauen. „Als ich mich umgehört habe, sagten die Leute: 'Mach es! Wir sind hier aufgeschmissen'.“

Dmitri Klimenko in seinem Nachtclub „The Balance“ in Tiflis
Dmitri Klimenko in seinem Nachtclub „The Balance“ in Tiflis
© Tako Robakidze/Bloomberg

Die georgische Regierung schätzt, dass in dem kleinen Kaukasusland mit seinen vier Millionen Einwohnern 80.000 Russen, Weißrussen und Ukrainer leben. Davon arbeiten 20.000 bis 25.000 in der IT- und Softwarebranche, und bei etwa 30.000 handelt es sich um russische Staatsbürger, die seit Beginn des Krieges zugewandert sind. Viele kamen vor kurzem auch aus Belarus und der Ukraine.

Jung, gut ausgebildet und finanziell unabhängig

Die IT-Spezialisten sehen für sich keine Zukunft in Russland, zumal die Sicherheitsdienste die Kontrolle über das Internet verschärfen, internationale Sanktionen auf der Wirtschaft lasten und ausländische Unternehmen das Land verlassen. Die Fachleute wandern in Nachbarländer aus etwa Armenien und Kasachstan, aber auch in die Türkei, nach Dubai und Israel. Und auch die USA locken sie mit der Aufhebung von einigen Visabestimmungen an. Der Exodus findet zu einer Zeit statt, in der sich russische Technologieunternehmen wie der Internetriese Yandex mit einer Verschärfung der Zensur, Engpässen bei wichtigen Komponenten und einer Gegenreaktion auf ausländischen Märkten konfrontiert sehen.

Die Neuankömmlinge sind jung, gut ausgebildet und finanziell unabhängig, also genau die Art von Menschen, für die Tech-Zentren wie Berlin, Lissabon und London ein Vermögen ausgeben, um sie für sich zu gewinnen. Sie in Georgien zu halten, wo sie ihre Kunden rund um den Globus per Laptop bedienen, ist eine große wirtschaftliche Chance für ein armes Land mit einem liberalen Steuer- und Wirtschaftssystem.

„Die ganze Welt konkurriert darum, solche Leute anzuwerben“, sagt der ehemalige Zentralbankgouverneur Giorgi Kadagidse bei einem Kaffee in der Innenstadt von Tiflis. Georgien solle sich offensiv als sicherer Hafen vor repressiven Regimen positionieren und mit einem starken Finanzsektor, Stränden, Bergen, einem warmen Klima und gutem Essenfür sich werben. „Wir können das Portugal des Ostens sein“, sagt er.

Touristen am Glockenturm des Marionettentheaters von Rezo Gabriadse in Tiflis
Touristen am Glockenturm des Marionettentheaters von Rezo Gabriadse in Tiflis
© Tako Robakidze/Bloomberg

Aber Kadagidse glaubt selbst nicht an diese Vision, denn die meisten Migranten verlassen das Land wieder, sobald sie ein Visum für die Weiterreise ergattern. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Georgier, die 2008 selbst eine russische Invasion erlebt haben, den Neuankömmlingen misstrauisch gegenüberstehen.

Was tut die Regierung?

Nach Ansicht von Kadagidse fehlt der georgischen Regierung der Wille, ein Umfeld zu schaffen und zu etablieren, das die Migranten zum Bleiben bewegen würde, so wie sie auch nicht in der Lage war, den EU-Kandidatenstatus zu erhalten. Der Ukraine und Moldawien wurde er vor kurzem zuerkannt. Dieser Rückschlag löste einige der größten Protestkundgebungen aus, die Georgien in seiner turbulenten postsowjetischen Geschichte je erlebt hat.

Die Regierung wurde vom Europäischen Parlament scharf kritisiert, weil sie im vergangenen Monat die Pressefreiheit eingeschränkt und bei der Justizreform und den bürgerlichen Freiheiten Rückschritte gemacht habe. Das betrifft auch den früheren Präsidenten Micheil Saakaschwili, der derzeit im Krankenhaus liegt und eine Haftstrafe verbüßt, die seine Anhänger als politisch motiviert kritisieren.

Die Opposition wirft der Regierung auch vor, sie wolle Moskau besänftigen. Lewan Dawitaschwili, Minister für Wirtschaft und nachhaltige Entwicklung, bezeichnet diese Kritik als unfair und politisch motiviert. Die Sicherheitsdienste überprüfen russische Einwanderer gründlich auf Agenten oder Sanktionsdrohungen, so Dawitaschwili, während die Regierung eine Task Force eingerichtet habe, die Unternehmen und Unternehmern bei der Ansiedlung und bei der Bewältigung von Verfahren wie der Eröffnung eines Bankkontos unterstüzen soll.

Die Regierung führe auch Gespräche, um internationale Technologieunternehmen anzusiedeln, die Mitarbeiter aus Russland abziehen, sagt Dawitaschwili in seinem Büro inmitten des Trubels des hypermodernen Registrierungszentrums von Tiflis. Der Nachtclubbesitzer Klimenko erzählt erstaunt, dass er nur 15 Minuten gebraucht habe, um seine Zulassung als Unternehmer zu erhalten.

„Dies ist sehr wichtig für Georgien, für die georgische Wirtschaft und für die digitale Transformation des Landes“, sagt Dawitaschwili über den russischen Zustrom. Andere Vorteile wie niedrige Einkommenssteuern, ein spezieller Körperschaftssteuersatz von fünf Prozent, der ausländische Technologieunternehmen anziehen soll, sowie eine Kultur und Sprache, die den Russen vertraut sind, gab es schon lange vor dem Krieg, sagt er.

Dass Georgien den Status eines EU-Beitrittskandidaten nicht erhalten habe, sei für die Regierung eine herbe Enttäuschung, zumal das Land bei den meisten EU-Beitrittskriterien vor Moldawien und der Ukraine liege, so Dawitaschwili.

Wohin zieht es die IT-Spezialisten?

Einige der Hindernisse, die einem von Russland ausgehenden Technologieboom in Georgien im Wege stehen, haben wenig mit der Regierungspolitik zu tun. Zum einen sind viele Russen dorthin geflohen, weil sie einfach ohne Visum einreisen konnten, aber von Anfang an planten, weiterzuziehen, sobald sie die dafür erforderlichen Dokumente erhalten würden.

Der 20-jährige Kostja Amelitschew sagt, er habe Moskau am 4. März aus Angst vor der Einberufung zum Kriegsdienst verlassen und schließe nun sein Studium aus der Ferne ab. Ein Start-up für Hochfrequenzhandel, das er mit anderen Exilanten nach Tiflis verlegt hat – zehn Kommilitonen sind ebenfalls in Georgien – bezahlt die Rechnungen. Er geht davon aus, dass er nach seinem Abschluss weiterziehen wird.

Der 25 Jahre alte Webentwickler Wladislaw Miedzijanski arbeitet weiter für das schwedische Unternehmen, das ihn in Moskau eingestellt hat, sagt aber, er sei sich nicht sicher, ob er in drei Jahren noch in Tiflis sein werde. Im Moment sei er einfach froh, dass er Steuern an die georgische Regierung zahle und nicht an das „völkermörderische“ Regime in seinem Heimatland.

Miedzijanski treffen wir im „Ploho“, eine von mehreren russischsprachigen Bars, die rund um Tiflis entstanden sind. „Man braucht hier nicht einmal eine Lizenz, um Alkohol zu verkaufen“, sagt die 24-jährige kasachische Mitbesitzerin Darija Scheniskhan. Die Wände und die Decke der kleinen Bar, die im Oktober eröffnet wurde, sind mit Anti-Putin-Graffiti übersät.

Miteigentümerin Darija Schenischan mit einem Barkeeper in ihrer Bar in Tiflis
Miteigentümerin Darija Schenischan mit einem Barkeeper in ihrer Bar in Tiflis
© Tako Robakidze/Bloomberg

Einige werden sich vielleicht doch für die Rückkehr nach Russland entscheiden. Ein leitender Angestellter eines großen russischen Technologieunternehmens berichtet, dass einige Mitarbeiter bereits zurückkehrten, weil die ersten Auswirkungen des Krieges nachgelassen hätten. Und nicht jeder in Georgien empfange die Einwanderer mit offenen Armen.

„Das ist wirklich ein Problem, denn wir wissen nicht, was diese Menschen in ihrem Land gemacht haben“, sagt der 30-jährige georgische IT-Fachmann Michail Ambukadse, während er im Registrierungszentrum auf ein freies Terminal wartet. Einige andere Interviewpartner sehen das genauso.

Anzeichen für einen kurzfristigen Aufschwung

Nach Untersuchungen der georgischen TBC-Bank sind die Mieten in der Hauptstadt sprunghaft angestiegen – im Mai um 101 Prozent im Vergleich zum Vorjahr –, wobei die Russen dafür verantwortlich gemacht werden, auch wenn niedrige Basiswerte eine große Rolle spielen. Surab Eristawi, geschäftsführender Gesellschafter der Immobilienfirma Rentals, sagt, er habe innerhalb eines Monats nach dem Krieg 500 russische Anfragen erhalten, aber nur eine einzige beantwortet – die eines zurückkehrenden Georgiers.

Laut dem gegenwärtigen Gouverneur der georgischen Zentralbank Koba Gwenetadse ist es noch zu früh, um zu beurteilen, welche langfristigen Auswirkungen die russische Zuwanderung auf Georgien haben wird. Es gibt jedoch Anzeichen für einen kurzfristigen Aufschwung. Die Überweisungen aus Russland haben sich im Mai verzehnfacht, die Einlagen auf Bankkonten russischer Staatsbürger sind zwischen Ende Februar und Ende Mai um 25 Mio. Dollar gestiegen, und die Einlagen auf allen Bankkonten des Landes insgesamt haben sich laut Gvenetadze um 192 Mio. Dollar erhöht – was wahrscheinlich auf die Konsumausgaben der Migranten zurückzuführen ist.

Der Nettoeffekt war eine Stärkung der georgischen Währung und der Leistungsbilanz. Doch während die zurückkehrenden ethnischen Georgier wahrscheinlich langfristig bleiben werden, „wird der Rest der Zuwanderer wahrscheinlich irgendwann gehen“, meint der Zentralbanker. „Die Frage ist, wann, und das wissen wir nicht.“

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©2022 Bloomberg L.P.

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