Die meisten Deutschen kannten Wolfgang Grupp bisher nur als den merkwürdigen Mann mit dem ulkigen Schimpansen aus der Werbung kurz vor der „Tagesschau“. Der 78-jährige Unternehmer selbst nennt sich gern einen „Tümpler“ – einen großen Fisch in einem sehr kleinen Teich im heimatlichen Burladingen.
Der Eigentümer und Chef des T-Shirt-Herstellers Trigema leitet einen überschaubaren Betrieb mit 1200 Beschäftigten, kommt ohne Bankkredite aus, produziert nur in Deutschland und dümpelt seit Jahren mit rund 100 Mio. Euro Umsatz dahin. In der Corona-Krise aber avancierte Grupp zum Liebling der Medien durch die schnelle Umstellung seines Textilbetriebs auf die Produktion dringend benötigter Gesichtsmasken. Den Zehnerpack zum stolzen Preis von 120 Euro. In der Näherei arbeiten sie seitdem mit einer Zusatzschicht, auf Staatshilfe kann der Diplom-Kaufmann getrost verzichten. Der Laden läuft.
Den Dänen Kasper Rorsted kannten die meisten Deutschen bisher gar nicht, aber jeder kennt sein Unternehmen Adidas. Einen weltumspannenden Konzern mit 60.000 Mitarbeitern, 24 Mrd. Euro Umsatz und hohem Wachstumstempo – jedenfalls bis zur Corona-Krise. Seitdem krachen die Verkäufe ins Bodenlose, 2500 Läden in aller Welt machten dicht. Und Rorsted avancierte durch den Beschluss, vorläufig keine Mieten mehr zahlen zu wollen, zum Buhmann der Nation. Mit einem schnell verhandelten Staatskredit in Höhe von 2,4 Mrd. Euro und weiteren 600 Mio. Euro von den Banken zieht sich der Konzern gerade noch aus Bredouille. Nichts läuft mehr wie früher.
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Der Schlüssel zum Überleben
Trigema und Adidas befeuern von zwei entgegengesetzten Enden her eine Debatte, die die deutsche Industrie in den nächsten Monaten und Jahren nachhaltig verändern dürfte. Es geht um die Widerstandskraft in einer plötzlichen existenziellen Krise wie jetzt in der Pandemie. Und wie immer in der Konzernwelt überwölben Berater und Betriebswirte, Investoren und Manager diese neue Generaldiskussion mit einem Ausdruck aus den USA: „Corporate Resilience“. Zugespitzt steht die Frage im Raum: Sollte Adidas nicht ein wenig wie Trigema werden? Mit mehr Eigenkapital und einem robusteren Geschäftsmodell, mit weniger Komplexität und einfacheren Lieferbeziehungen, mit noch mehr Tempo durch ein Top-down-Management.
„Die Fähigkeit, einen Schock zu absorbieren und besser als die Konkurrenz aus der Krise herauszukommen, wird der Schlüssel zum Überleben“ in der künftigen Unternehmenswelt, betonen die Experten von McKinsey in einer neuen Studie. Die Wirtschaftsprüfer und Berater von KPMG prophezeien: Die Folgen der Corona-Krise würden noch „für viele Jahre die Art und Weise verändern, wie wir konsumieren, wie Unternehmen arbeiten, wie sie ihr Kapital einsetzen, wie sie ihre Finanzen managen und wie sie ihre Lieferketten organisieren“. Und Commerzbank-Chef Martin Zielke erwartet „Auswirkungen auf alle Geschäftsmodelle“, sowohl bei den Banken als auch bei den Industriebetrieben.
Die neue Normalität bringt dabei ein gutes Stück Rückbesinnung auf alte Tugenden der soliden Unternehmensführung. Ein hohes Eigenkapital gilt plötzlich wieder als zentrale Kennziffer, nachdem sie in Zeiten des billigen Geldes so gut wie zweitrangig geworden war. Selbst in der ersten deutschen Börsenliga spielen die Konzerne mit sehr unterschiedlichen Karten, wenn es um die Finanzkraft geht.
Die Eigenkapitalquote der Dax-30-Werte lag vor dem Corona-Ausbruch zwischen lausigen 9,2 Prozent (Eon) und komfortablen 59,6 Prozent (Beiersdorf). Die Lufthansa ging zuletzt mit nur 24 Prozent an den Start – und war nach dem Einbruch des Flugverkehrs der erste Dax-Konzern, der nach sofortiger Staatshilfe rufen musste.
Bis zur Corona-Krise galt es gar als Stärke, das Eigenkapital möglichst knapp zu halten. Statt die Reserven zu polstern, setzten viele Unternehmen auf den Rückkauf eigener Aktien und auf immer höhere Dividenden, um damit den Börsenkurs zu treiben. Bestes Beispiel: Adidas. 2018 und 2019 setzte der Konzern rund 1,8 Mrd. Euro für den Rückkauf von Aktien ein. Erst in allerletzter Minute, am 31. März dieses Jahres, stoppte Adidas-Chef Rorsted das Programm für 2020, das eine weitere Milliarde gekostet hätte.
Die freie Liquidität in der Kasse reichte deshalb schon nach wenigen Wochen Corona-Krise nicht aus, den Konzern über Wasser zu halten. Ist der „Manager des Jahres“ (so das „Manager Magazin“ vor fünf Monaten) deshalb plötzlich ein Versager?
Nein, nur nicht vorbereitet auf ein extremes Ereignis wie die Pandemie und als Krisenmanager bisher nicht erprobt. „Die Widerstandskraft von Adidas war bei Weitem nicht so hoch, wie Rorsted immer geglaubt hatte“, meint ein Roland-Berger-Berater, der sich seit Jahren mit den Zahlen und Strategien in Herzogenaurach beschäftigt.
Mehr Eigenkapital und mehr Bargeld in der Konzernkasse vorzuhalten, auch in guten Zeiten, gehört zu den wichtigsten Geboten von Corporate Resilience. Wie schnell selbst großen Unternehmen das Geld ausgeht, wenn plötzlich nur noch wenig oder gar nichts hereinkommt, zeigt eine Simulation des Osnabrücker BWL-Professors Peter Seppelfricke. Der Geschäftsführer der Value Investor Research GmbH füttert seine Server regelmäßig mit den Finanzdaten aller großen börsennotierten Gesellschaften, die im Dax, M- und S-Dax notieren.
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Nach seinen Berechnungen aus der ersten Aprilhälfte geht etlichen Unternehmen im Extremfall schon nach weniger als 100 Tagen die Luft aus. Dazu zählen vor allem mittelgroße Konzerne wie der Stahlhändler Klöckner oder der Kupferproduzent Aurubis, aber auch Schwergewichte wie Continental oder die Lufthansa. Viele von ihnen könnten auch kaum auf weitere normale Bankkredite hoffen, falls es in diesem Jahr zu einem zweiten Corona-Lockdown kommen sollte. „Es rächt sich nun“, betont der Finanzexperte, „dass man die Möglichkeiten der Fremdkapitalaufnahme in den letzten Jahren weitgehend ausgereizt hat.“
Die Mittelstandsberatung Munich Strategy kommt nach einem „Stresstest“ von 3500 kleineren und mittelgroßen Unternehmen in Deutschland zu einem noch viel schlimmeren Befund: „Low Performer“ mit nur geringen Gewinnmargen, immerhin ein Drittel der untersuchten Unternehmen, seien durch die Corona-Krise zu „Zombie-Firmen“ mutiert, die auch mit Staatshilfe nur schwer zu retten seien. Unternehmen mit einer Eigenkapitalquote unter 35 Prozent seien jetzt in vielen Branchen kaum noch überlebensfähig. Nach einer Faustformel reichte bisher eine Quote von 25 Prozent aus. Doch ein heftiger externer Schock verschiebt die Maßstäbe.
Härtere Regulierung
Seit der Finanzkrise 2008 haben die Aufsichtsbehörden die Vorgaben für das Kernkapital der Banken massiv erhöht und die Regeln für Sicherheitspuffer verschärft. Etwas Ähnliches könnte nach der Corona-Krise der Realwirtschaft blühen, wie einige Experten prophezeien.
Die schon laufende Debatte, ob Konzerne, die Staatskredite aufnehmen oder an denen sich der Staat sogar beteiligt, weiter Dividenden und Millionengehälter an ihre Vorstände zahlen können, ist nur Vorbote einer viel breiteren Diskussion: Die Experten von McKinsey erwarten bereits verstärkte staatliche Eingriffe in die großen Konzerne – von einem möglichen Verbot von Aktienrückkäufen bis zu Eigenkapitalstandards. Und der britische Publizist Robert Cox prophezeit, die Ära der „Hyper-Effizienz“ in den Konzernen, in der nur die Maximierung der Gewinne durch Kostensenkungen und möglichst geringen Kapitaleinsatz zählte, sei endgültig vorbei. Künftig achteten die Regulatoren, Investoren und Aktionäre wieder auf „größere Bargeldkissen, um mit unvorhersehbaren Ereignissen besser fertigzuwerden“.
Einige Branchen müssen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf staatliche Regeln für ihre künftigen Lieferketten gefasst machen – den zweiten Schlüsselfaktor für Corporate Resilience. Das gilt vor allem für die Pharmaindustrie und die Medizintechnik, die ihre Produktion nach Europa und Deutschland zurückverlagern müssen.
Andere Industrien, vor allem die Autokonzerne, wehren sich noch gegen eine Veränderung ihrer hochkomplexen Lieferketten. VW will seine „bewährten Prozesse“ vorläufig beibehalten, betont Einkaufsvorstand Stefan Sommer. Man fürchtet „extreme Mehrkosten“, wenn nicht mehr das Prinzip gilt, möglichst billig auf der ganzen Welt einzukaufen, egal wo und wie weit entfernt von den eigenen Fabriken. Doch Investoren könnten einen Mentalitätswandel erzwingen, meint der britische Finanzwissenschaftler Colin Haslam, wenn sie künftig hochriskante Lieferketten negativ in ihren Bewertungen berücksichtigt.
Immerhin 13 Prozent der deutschen Elektrounternehmen berichteten Mitte April über stark gestörte oder gar ganz ausgefallene Lieferketten, wie aus einer Umfrage des Branchenverbands ZVEI hervorgeht. 69 Prozent meldeten „leichte“ Störungen – und das nach nur wenigen Wochen Krise. „Es wird nicht so bleiben wie bisher, wir werden künftig nicht mehr so stark auf internationale Lieferketten vertrauen“, sagt die Ökonomieprofessorin Veronika Grimm, die seit Kurzem als Mitglied des Sachverständigenrats die Bundesregierung berät. Und auch in den Konzernen hört man erste Stimmen, die in diese Richtung drängen: „Erst einmal müssen alle den unmittelbaren Stress der Notprogramme managen“, meint ein Siemens-Aufsichtsrat: „Aber danach geht es auch an die Strategien.“
Dabei gehören nicht nur Finanzen und Einkaufsprozesse auf den Prüftisch, so die Unternehmensberatung Deloitte, sondern alle Konzernprozesse, die Führungskultur und die Kommunikation. Notwendig seien „breitere Pläne zur Erhöhung der Belastbarkeit“, hört man auch von McKinsey. Selbst wenn die Wirtschaft in den nächsten Monaten wieder langsam anläuft, könnten die Konzerne bei einer zweiten Welle der Corona-Pandemie schon im Winter abermals vor neuen schweren Problemen stehen.
Die Zeit drängt
Eigentlich müssten die Konzerne also sehr schnell widerstandsfähiger werden. Doch das ist oft nicht machbar. Beispiel Digitalisierung: In der Corona-Krise zeigt sich die ganze Kraft automatisierter Geschäftsprozesse und Onlineverkäufe. Konzerne wie Amazon gehören deshalb zu den Gewinnern – und Unternehmen wie Adidas wären gänzlich in der Versenkung verschwunden, wenn sie nicht wenigstens einen Teil ihrer Produkte über das Internet absetzten. Die Digitalisierung gehört damit zu den Schlüsselfaktoren für die Corporate Resilience. Aber die verzweifelten Versuche vieler Einzelhändler in den letzten Wochen, schnell ein Internetgeschäft aufzuziehen, zeigen die Schwierigkeit, digitale Vertriebslinien zu starten.
Noch komplizierter wird die Stärkung der „kulturellen Widerstandskraft“, Lieblingsthema des amerikanischen Managementberaters und Bestsellerautors Louis Carter. In Zeiten von Heimarbeit, Betriebspausen und plötzlich radikal veränderten Abläufen seien mehr Kommunikation, Führung und Feedback entscheidend. Carter spricht von der Notwendigkeit „hoher emotionaler Verbindung“ in Unternehmen, die schnell gefährdet sei, wenn Vorstände selbst nicht vorleben, was sie von ihren Angestellten verlangen.
Doch viele Unternehmen tun sich bereits schwer mit der Organisation von Videokonferenzen. Bei einem ohnehin dezentral arbeitenden Konzern wie SAP ging alles glatt. Aber in einem eher traditionell geführten Konzern wie Siemens „rumpelte es in einigen Abteilungen heftig nach der Umstellung auf Homeoffice“, sagt ein Betriebsrat aus Erlangen. Bei BMW verärgerte Konzernchef Oliver Zipse seine obersten Manager Ende März mit dem Befehl, sich gefälligst zu einem Meeting mit ihm in der Münchner Zentrale einzufinden. Und von einem Osram-Manager hört man dieser Tage, sein Vorstand zeige sichtliche Probleme, „in der neuen Homeoffice-Landschaft nicht den Faden zu verlieren“. Fredmund Malik, Doyen der europäischen Beratergilde, hält sogar die Hälfte der deutschen Topmanager in der höheren Komplexität der Unternehmensführung für überfordert.
Nach den Erfahrungen der Finanzkrise gehen nur etwa zehn Prozent aller Konzerne nachhaltig gestärkt aus schweren Umbrüchen hervor. Die McKinsey-Experten nannten diese Unternehmen schon vor der jetzigen Corona-Krise „the resilients“ – auf Deutsch etwa: die Belastbaren. Deren Umsätze und Gewinne brachen in der Finanzkrise zwar genauso stark ein wie bei ihren direkten Konkurrenten, sie erholten sich aber deutlich schneller und bauten danach ihren Vorsprung weiter aus. Man kann erwarten, dass es bei allen Unterschieden auch dieses Mal so läuft. Die Gemeinsamkeiten der „Belastbaren“: mehr Eigenkapital, höhere Reserven, ein konzentrierteres Geschäftsmodell, eine eiserne Disziplin bei den Kosten und der Akquisition von anderen Unternehmen. Als die Konkurrenz noch die Wunden leckte, schalteten solche Konzerne wieder auf Marktanteilsgewinne und Übernahmen um.
So könnte es auch in Deutschland kommen. Etwa bei Beiersdorf, einem der robustesten deutschen Konzerne, wo man bereits Ausschau nach möglichen Übernahmezielen hält. Oder bei Vonovia, dem Wohnungskonzern mit einem einfachen und soliden Geschäftsmodell, der seinen Wettbewerber Deutsche Wohnen erneut ins Visier nimmt.
Oder bei Infineon, dem deutschen Chiphersteller, der mit einem starken Asiengeschäft wieder durchstartet und die Übernahme des US-Konkurrenten Cypress durchzieht. Ein bisschen Glück muss man natürlich auch haben: Die Finanzierung des Deals sicherten sich die Manager aus München schon im letzten Jahr. Infineon glänzte deshalb bei der Bilanzschau in diesem Frühjahr mit der allerhöchsten Eigenkapitalquote aller Dax-30-Konzerne: 64,4 Prozent.
Fast so auskömmlich wie bei Wolfgang Grupp und seinem kleinen Tümpler Trigema.
Der Beitrag ist in Capital 06/2020 erschienen. Interesse an Capital ? Hier geht es zum Abo-Shop , wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es bei iTunes und GooglePlay