Ein Hinweis fehlte selten in den vergangenen Tagen, wann immer es um den terroristischen Angriff der Hamas auf den Süden Israels ging: Die Massaker und Gräueltaten der in Gaza herrschenden Miliz fielen fast exakt auf den 50. Jahrestag eines anderen Überfalls – des Angriffs einer Gruppe arabischer Staaten auf Israel, der heute als Jom-Kippur-Krieg bekannt ist. Es war das Jahr 1973, und es schloss sich die Ölkrise an, in deren Verlauf der Preis für ein Barrel (159 Liter) Rohöl kurzfristig um kaum vorstellbare 70 Prozent in die Höhe schnellte und danach sogar noch weiter anstieg. Die Folge waren Sonntagsfahrverbote, leere Autobahnen und eine veritable Wirtschaftskrise in Deutschland und anderen Staaten. Ereignisse, die sich ins ökonomische Gedächtnis der Nation gruben.
Im Vergleich dazu ist der aktuelle Gewaltausbruch in Nahost an den Rohstoffmärkten bisher weitgehend unbemerkt vorübergegangen. Der Preis für die Referenzsorte WTI machte am Tag nach dem Überfall durch die Hamas einen kleinen Sprung nach oben, den er allerdings schon wenige Stunden später wieder einbüßte. Er blieb mit rund 85 Dollar sogar deutlich unter den Werten von Ende September, als die Investmentbank Goldman Sachs bereits eine Entwicklung in Richtung 100 Dollar und mehr voraussagte. Auch die Märkte insgesamt blieben daher weitgehend ruhig, anders als es eine derartige Eskalation im Nahen Osten hätte vermuten lassen. „Der Konflikt zwischen Israel und der Hamas hat keine direkten Auswirkungen auf den Ölhandel“, urteilte die Internationale Energieagentur (IEA) in einer aktuellen Analyse der Lage.
Schieferöl als Ausgleichsfaktor
Der zentrale Grund liegt in den Unterschieden zwischen beiden Kriegen: 1973 griff nicht nur eine Terrororganisation, sondern gleich mehrere Staaten Israel an. Hinzu kam ein Wirtschaftskrieg: Die in der Opec organisierten Erdölförderländer drosselten ihre Fördermengen massiv und verknappten damit das Angebot auf dem Weltmarkt – mit dem Ziel, die westlichen Industriestaaten von der Unterstützung Israels abzubringen. Es war eine koordinierte Aktion, die auch deshalb so viel Wucht hatte, weil die Opec damals eine noch größere Preissetzungsmacht auf dem Ölmarkt hatte als heute. Immerhin hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vor allem in den USA eine Schieferölindustrie etabliert, die in der Lage ist, Produktion je nach Preislage vergleichsweise rasch herauf- und herunterzufahren.
Natürlich ist das Risiko eines neuerlichen Ölpreisschocks alles andere als gebannt. Viel wird davon abhängen, ob der heimliche Unterstützer der Hamas – das Ölförderland Iran – offen in den Konflikt hereingezogen wird – und ob es möglicherweise sogar zu Militärschlägen gegen den Iran kommt. „Solange die Krise läuft, werden die Märkte am Haken hängen“ so die IEA. Nach wie vor werde noch „ein Drittel des über die Meere abgewickelten Ölhandels“ im Nahen Osten generiert.
Hoffen auf weiche Landung
Wie sich der Ölpreis über den Winter entwickelt, hängt aber bei weitem nicht nur von der Entwicklung in Israel und seinen Nachbarstaaten ab. Noch deutlich wichtiger dürfte sein, wie sich die Nachfrage in China entwickelt und vor allem, wie Ölförderländer wie Saudi-Arabien oder Russland darauf reagieren. Der ursprüngliche Anstieg der Preise im September war auch deshalb entstanden, weil die Opec mit weniger Nachfrage aus Asien gerechnet und daher ihre Produktion zurückgefahren hatte. Allerdings sind die konjunkturellen Signale noch nicht endeutig. Nach wie vor ist unklar, ob die US-Wirtschaft eine weiche Landung hinlegt, ab wann und wie sehr sich China erholt und auch, ob die europäische Wachstumslokomotive Deutschland wieder losfährt.
Eines aber dürfte nach Lage der Dinge weitgehend ausgeschlossen sein. Autofreie Sonntage sind selbst bei einer weiteren Eskalation im Nahen Osten unwahrscheinlich.