Anzeige

Interview Von der Leyen: Sechs Fragen zur neuen EU-Chefin

Seit Anfang Dezember amtiert Ursula von der Leyen als Präsidentin der EU-Kommission. Im Februar muss sie als Zeugin vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags zur Berateraffäre erscheinen
Seit Anfang Dezember amtiert Ursula von der Leyen als Präsidentin der EU-Kommission. Im Februar muss sie als Zeugin vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags zur Berateraffäre erscheinen
© Getty Images
Vor der frisch gewählten EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen liegen enorme Aufgaben. Die wichtigsten Fragen rund um ihr neues Amt und ihren Wahlversprechen

Neun Stimmen verdankt die scheidende Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen ihren Sieg bei der Wahl zur EU-Kommissionspräsidentin. Wenn Sie ab dem 1. November ihr Amt aufnimmt, wird sie die erste Frau an der Spitze Europas sein.

Als Kommissionspräsidentin wird sie in den kommenden fünf Jahren rund 500 Millionen Einwohner der europäischen Staatengemeinschaft repräsentieren – und die europäische Politik mitgestalten.

Nach ihrem Wahlsieg sind die Reaktionen auf die neue EU-Chefin allerdings gemischt. Capital hat mit Grégory Claeys von der Brüsseler Denkfabrik Bruegel über von der Leyens Wahlsieg und ihr neues Amt gesprochen.

CAPITAL: Vor ihrer Wahl hat Ursula von der Leyen verschiedene Ziele vorgestellt, die sie als neue Präsidentin der EU-Kommission verfolgen will, darunter auch ein „fairer Mindestlohn“ in ganz Europa. Inwiefern kann sie diese Versprechen jetzt einlösen?

GRÉGORY CLAEYS: Dabei ist wichtig zu bedenken, dass von der Leyen als neue Präsidentin der EU-Kommission lediglich Vorschläge machen kann, die die Kommission wiederum in Gesetzesvorschläge umwandelt. Wenn sie beispielsweise den Mindestlohn mit einer EU-Richtline einführen will, braucht sie eine qualifizierte Mehrheit. Das bedeutet: Mindestens 16 von 28 Ländern und 65 Prozent der Bevölkerung der EU müssen ihren Vorschlag unterstützen. In diesem Falle wäre das allerdings sehr schwierig, da die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Politik zum Mindestlohn sehr heterogen sind. Ich hoffe, sie wird ihre Versprechen einlösen, aber sie ist nicht diejenige, die das entscheidet.

Wie sind die Reaktionen von Seiten der Wirtschaft zu von der Leyens Wahlsieg?

Ich habe soweit keine Reaktionen von Unternehmen oder Geschäftsführern zu ihrem Wahlsieg vernommen. Allerdings hat von der Leyen nach ihrer Bewerbungsrede ihre Agenda für die neue Kommission vorgelegt. Darin hat sie aus ökonomischer Perspektive alle wichtigen Probleme Europas genannt – vom Klimawandel über die Vertiefung und Verbesserung der Eurozone, bis hin zum Umgang mit der Digitalisierung und Handelsangelegenheiten. Damit hat sie Themen angesprochen, auf die sich die viele innerhalb der EU einigen können. Deshalb sollte auch die Wirtschaft ihren Wahlsieg positiv aufgenommen haben.

Von der Leyens Wahlversprechen sind teilweise weit entfernt von der politischen Haltung ihrer eigenen Partei, der CDU. Warum ist das so?

Wenn man sich anschaut, was sie in ihrer Rede und bezüglich ihrer Pläne für die neue Kommission sagt, stimmt es natürlich, dass ihre Ziele weit weg von der üblichen CDU-Position sind. Stattdessen hat sie sich selbst mehr in die Politik der vorherigen Kommission unter Jean-Claude Juncker eingereiht. Ein möglicher Grund dafür ist, dass die EVP und damit auch die CDU im Europäischen Parlament keine Mehrheit haben. Von der Leyen muss ihre Inhalte also ausweiten, um eine größere Anzahl an Parteien zu erreichen. Außerdem muss sie als Präsidentin der EU-Kommission alle Europäer repräsentieren. Und als Präsidentin einer Insitution, die auf die Koalitionsbildung im Europäischen Parlament und im Europäischen Rat angewiesen ist, kann sie sich dabei nicht nur auf die Ziele ihrer Partei konzentrieren.

Nach der Wahl hieß es in einigen Medien, von der Leyen verdanke ihren Wahlsieg womöglich den Euroskeptikern im Parlament. Welche Motivation hätten diese Abgeordneten sie zu wählen?

Hier muss man natürlich hervorheben, dass die Wahl im Europäischen Parlament eine geheime war. Wir werden deshalb niemals sicher wissen, wer für und wer gegen sie gestimmt hat. Natürlich haben einige Mitglieder der polnischen PiS- und der ungarischen Fidesz-Partei – von denen bekannt ist, dass sie Euroskeptiker sind– angegeben, von der Leyen gewählt zu haben. Das Hauptmotiv dieser Abgeordneten war allerdings, dass sie den Sozialdemokraten Frans Timmermans nicht als nächsten Kommissionspräsidenten wollten. Er hatte in der Vergangenheit ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen eröffnet hat. Für sie war von der Leyen im Vergleich also das kleinere Übel.

Im Vorfeld der Wahl wurde von der Leyen als Kandidatin kritisiert, weil sie bei den Europawahlen nicht als Spitzenkandidatin aufgestellt war. Inwiefern hat das ihre Wahl beeinflusst?

Es stimmt natürlich, dass sie keine Spitzenkandidatin war. Allerdings musste der Europäische Rat nach einem Kandidaten suchen, weil es kein Übereinkommen für die eigentlichen Spitzenkandidaten gab. Auch im Europäischen Parlament gab es keine klare Zustimmung für einen der Spitzenkandidaten der Europawahl. Hinzu kommt, dass die Kandidaten in einigen EU-Mitgliedsstaaten auf dem Wahlzettel namentlich nicht genannt wurden, es war also in vielen Fällen unklar, dass es einen spezifischen Kandidaten für die Parteien gibt. Daher war es wichtiger, sich in der Nominierung auf politische Inhalte zu konzentrieren und jemanden mit den richtigen politischen Inhalten als die richtige Person für das Amt zu finden.

In Deutschland ist von der Leyens Ruf umstritten. Im Falle der Berateraffäre gibt es beispielsweise einen Untersuchungsausschuss. Wie haben andere europäische Länder von der Leyen wahrgenommen?

Die meisten der europäischen Nachbarländer kannten von der Leyen kaum, bevor sie nominiert wurde. Danach wurde in den Medien viel über sie berichtet und diskutiert. Ihr potentieller Interessenskonflikt und das Fehlverhalten innerhalb des Verteidigungsministeriums wurde also viel thematisiert. Aber sie ist eben nicht die einzige Politikerin in einer EU-Spitzenposition, die einen solchen Hintergrund hat. Zum Beispiel hat es auch gegen Christine Lagarde als französische Finanzministerin ein Untersuchungsverfahren gegeben. Abgesehen davon, wurde sie aber auch als sehr pro-europäisch wahrgenommen. Und das nicht nur wegen ihrer Familiengeschichte und weil sie in Brüssel aufgewachsen ist , sondern auch weil sie sich politisch für eine stärkere europäische Integration ausgesprochen hat. Zudem ist ihre Mehrsprachigkeit ein Vorteil. Denn gerade Ländern wie Frankreich ist es wichtig, dass der Präsident der EU-Kommission Deutsch, Englisch und Französisch spricht. Alles in allem hat sie eine starke europäische Identität und das ist der Punkt, auf den viele andere Länder sich konzentrieren.

Grégory Claeys arbeitet seit 2014 für die Brüsseler Denkfabrik Bruegel. Seine Forschungsinteressen liegen auf internationaler Makroökonomie und internationalen Finanzen, Zentralbanken und European governance

Mehr zum Thema

Neueste Artikel