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Timo Pache Vielleicht sind die USA im Herbst einfach nicht mehr da

Ukrainische Soldaten unterhalten sich, während einer sich auf das Geschütz eines Panzers stützt
Ukrainische Stellung bei Bachmut: Sollten die USA aus der Hilfe für die Ukraine aussteigen, müssen die Europäer sie alleine stemmen
© Diego Herrera Carcedo/Anadolu / Picture Alliance
Europa muss seine Verteidigung dringend selbst in die Hand nehmen. Schon sehr bald könnten die dafür nötigen Summen alles in den Schatten stellen, was wir bisher gewohnt sind

Der neue polnische Ministerpräsident Donald Tusk hielt sich am Donnerstag nicht mehr groß zurück: „Liebe republikanische Senatoren Amerikas“, schrieb Tusk, ein Konservativer nebenbei bemerkt, auf dem Kurznachrichtendienst X, „Ronald Reagan, der Millionen von uns geholfen hat, unsere Freiheit und Unabhängigkeit zurückzugewinnen, muss sich heute im Grab umdrehen. Schämen Sie sich.“ Zuvor war im US-Kongress ein weiteres Mal ein Kompromiss zwischen Demokraten und Republikanern über weitere Waffenlieferungen und Finanzhilfen der Amerikaner an die Ukraine gescheitert. 

Damit spitzt sich die Lage für die kämpfenden Ukrainer immer weiter zu, nach allen verfügbaren Informationen leeren sich die Munitionsvorräte ihrer Armee bedenklich, und die russischen Angreifer gewinnen an wichtigen Stellen im Osten des Landes die Oberhand. Was für die Ukrainer bereits eine Frage von Leben und Tod ist, ist für den Westen zumindest eine von Willen und Glaubwürdigkeit: Wollen Europa und die USA der Ukraine überhaupt noch weiterhelfen oder hofft man inzwischen insgeheim darauf, sich irgendwie aus diesem Konflikt im östlichen Europa herauswinden zu können?   

Mal ganz abgesehen von der Frage, ob es für einen europäischen Regierungschef besonders klug ist, gegenüber den US-Republikanern jetzt solche Töne anzuschlagen: Tusks Intervention gibt einen Vorgeschmack auf das, was Europa in den kommenden Wochen wahrscheinlich bevorsteht – schon Monate, bevor die US-Amerikaner Anfang November einen neuen Präsidenten wählen werden

Europa muss alleine zurechtkommen

Die USA sind bis auf weiteres handlungsunfähig und nicht mehr in der Lage, ihr Hilfs- und Sicherheitsversprechen gegenüber der Ukraine einzulösen. Dass Bidens Militär- und Hilfspaket doch noch kommt (immerhin soll darüber noch einmal abgestimmt werden), darauf sollten sich weder Ukrainer noch Europäer verlassen. Und was langfristig aus der Beistandspflicht der NATO und dem Schutzschirm der Amerikaner über Europa wird, wird wohl nach der Wahl mit dem neuen US-Präsidenten verhandelt. Je nachdem, wer dann im Weißen Haus sitzt, sollten die Europäer aber wohl nicht mehr besonders viel erwarten.   

Der bekannte US-Ökonom Kenneth Rogoff sagte schon Ende Januar im Capital-Interview: „Europa hat noch nicht wirklich realisiert, dass es sich nun selbst um die Verteidigung kümmern muss.“ Die Waffenvorräte gingen zur Neige, und für den Nachschub hätten auch die USA nur begrenzte Kapazitäten – wenn sie denn überhaupt noch etwas lieferten. „Europa kann sich nicht mehr hinter den USA verstecken. Vielleicht werden sie ab Herbst einfach nicht mehr da sein.“

Insofern war es sicher kein Zufall, dass Kanzler Olaf Scholz in dieser Woche eine Regierungsmaschine bestieg und kurzerhand nach Washington flog. Wahrscheinlich wollte er einfach einmal selbst im Weißen Haus nachschauen, ob da noch jemand ist – und wie weit man mit Joe Biden jetzt noch planen kann. Was bei dem Treffen besprochen werden sollte, war am Freitagnachmittag noch offen. Aber man darf davon ausgehen, dass es um die Frage ging, wie Europa eventuell die Lücken schließen kann, die das absehbare Ausbleiben der US-Militärhilfen in den Waffenlagern der Ukrainer reißt. Der Sicherheitsexperte Christian Mölling vom Berliner Thinktank DGAP mahnt bereits eine „gewisse Kreativität“ an – denkbar sei etwa, dass Europa oder zumindest eine Auswahl europäischer Staaten das Budget zur Verfügung stellt, mit dem die Ukraine dann in den USA die Waffen einkaufen kann, die sie so dringend benötigt.

Die Verteidigungsausgaben werden massiv steigen

Damit deutet sich eine Wende für Europa an, die alles in den Schatten stellen dürfte, was wir in den letzten drei Jahren seit der Pandemie und dem Angriff auf die Ukraine vor zwei Jahren diskutiert haben: den Corona-Wiederaufbaufonds etwa oder die zaghaften Versuche einer europäischen Verteidigungspolitik. Denn kurzfristig mag es um Waffenpakete und Hilfen im Wert von weiteren 40 bis 60 Mrd. Dollar gehen, die die Europäer vielleicht mit viel gutem Willen noch zusammenbekämen – notfalls sogar eine Allianz der Willigen aus Nord- und Osteuropa. 

Doch das wäre wahrscheinlich nur der Auftakt – ja, aus Sicht von Trump und seinen Republikanern sogar eine sehr attraktive Blaupause für die Zeit nach einem möglichen Wahlsieg. Ihr Kalkül geht so: Stellen wir die Europäer doch vor die Wahl – entweder wir verabschieden uns aus der NATO, und die Europäer müssen ihre Verteidigung künftig selbst organisieren (inklusive eigener Atomwaffen) oder die Europäer zahlen für amerikanische Soldaten und Atomraketen auf dem alten Kontinent. Jan Kallmorgen, ein exzellenter Kenner der transatlantischen Beziehungen und neuerdings Partner in der Strategie- und Transaktionsberatung bei EY mit Fokus auf Geopolitik, formuliert das so: „Trump dürfte kaum bereit sein, künftig für den amerikanischen Schutzschirm zu bezahlen“, sagt Kallmorgen, „dann sprechen wir nicht mehr von zwei Prozent des BIP für die Verteidigungsausgaben, sondern möglicherweise von fünf bis sechs Prozent.“ Pro Jahr, pro Land. 

Doch schon die zwei Prozent – immerhin rund 70 Mrd. Euro – erreicht Deutschland in diesem Jahr nur mit Ach und Krach und mit Hilfe des berühmten Zeitenwende-Sondervermögens. Nur ist das schon bald aufgezehrt. Und fünf bis sechs Prozent, das entspräche einem Betrag von mindestens 175 Mrd. Euro. Wie gesagt, nur für Deutschland und das jedes Jahr. 

Eine Neukonfiguration des Bundeshaushalts ist notwendig

Solche Summen sind ein Schock, vielleicht aber auch ein lehrreicher, gerade für uns Deutsche, die wir die neue Realität da draußen in der Welt noch immer gerne ausblenden mit unseren typischen Wünsch-Dir-Was-Debatten über Bürgergeld, Kindergrundsicherung, Jobticket und Klimageld. Geradezu erstrebenswert erscheint dieser Schock sogar angesichts der eingeübten Politikersatzhandlungen in der Ampelkoalition wie dem jüngsten Hickhack zwischen Robert Habeck und Christian Lindner über die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags oder ein Senken der regulären Steuern auf Unternehmensgewinne. Solange beide nicht wirklich über Finanzierung und Gegenfinanzierung sprechen wollen, kann man darauf gut verzichten – so dringend und wichtig beides auch wäre.

Eine Verdopplung oder Verdreifachung der Militärausgaben ist kurzfristig ohne neue Schulden gar nicht darstellbar, mittel- und langfristig erfordert sie aber eine komplette Neukonfiguration des Bundeshaushalts. Das gilt für die Ausgaben ebenso wie für die Einnahmen. Wahrscheinlich hat Scholz diese absehbare Wende genau im Kopf gehabt, als er den jüngsten Haushaltskompromiss nach dem Schulden-Urteil aus Karlsruhe vorstellte: Sollte sich die Lage in der Ukraine weiter zuspitzen, könne dies auch in diesem Jahr ein Aussetzen der Schuldenbremse rechtfertigen, hatte Scholz angekündigt. Gut möglich, dass wir da schneller hinkommen als gedacht. 

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