Im schier ewigen und ermüdenden Kampf gegen das Virus hat es diese Woche zwei Ereignisse gegeben, die bemerkenswert sind: Der französische Präsident hat seine ungeimpften Landsleute beschimpft, in einer gezielten Provokation. Er werde sie nicht zwangsimpfen oder ins Gefängnis stecken, aber: „J‘ai très envie de les emmerder“. Emmerder ist ein Verb, das in deutschen Zeitungen mit „piesacken“ oder „nerven“ übersetzt wurde, in englischen Medien mit „piss off“, was vermutlich treffender ist. Denn im Wortstamm steckt das französische Wort „merde“.
In den USA wiederum haben Mitglieder des früheren Pandemie-Beratungsteams von Joe Biden sich in amerikanischen Zeitungen zu Wort gemeldet. Und die Mediziner, alles hoch geachtete Leute, hatten eine Botschaft: Es sei höchste Zeit für eine neue Strategie im Kampf gegen das Virus: Sie fordern eine Phase des „New Normal“, in der Inzidenzen weniger die Politik treiben. „SARS-CoV-2 wird bleiben, sich entwickeln und uns immer wieder überraschen“, hieß es in einem der drei Aufsätze . Andere US-Virologen warnen darüber hinaus vor einem Leben mit „forever-boosting“.
Die Provokation und die Publikationen kamen in einer entscheidenden Phase dieser Pandemie, die der Jahreswechsel nur äußerlich eingeleitet hat. Eine Phase, in der nahezu alle Nationen mit ähnlichen Fragen ringen: Impfpflicht – ja oder nein? Alles offen lassen – oder noch einmal schließen? Und: Omikron – von der Pandemie zur Endemie? Letztere ist die entscheidende, die Metafrage.
Ist das Mittel gegen die Pandemie schlimmer als die Krankheit selbst?
2022, das ist sicher, wird Jahr III der Corona-Pandemie. Aber es wird anders werden, werden müssen, das zeichnet sich ab (auch wenn man bei solchen Prognosen immer vorsichtig sein muss, eine neue Variante kann alles wieder verändern).
Jetzt aber sind wir bei Omikron. Und nicht nur Omikron rast. Die Folgeerscheinungen und Folgeschäden in einer immer gereizteren, erschöpften und gespaltenen Gesellschaft sind erheblich, und sie führen uns zurück zu einer Frage, die ganz am Anfang der Pandemie einmal gestellt wurde: Ob das Mittel gegen die Pandemie (das damals allein Lockdown hieß) irgendwann schlimmer ist als die Krankheit selbst. In der ersten Phase im Jahr 2020 war das eindeutig nicht der Fall; 2021, dem Jahr der großen Impfkampagnen, war diese Frage bis November irrelevant, weil Impfungen für die übergroße Mehrheit in allen Ländern tatsächlich die Rettung und Hoffnung brachten.
Und jetzt? Da wir zwischen Boostern, Monsterwellen und Lockdowns, die nicht mehr so heißen, treiben? Wir spüren, wie die Frage nach dem „Leben mit dem Virus“ in neuer Gestalt immer intensiver rumort. Weil in vielen Ländern zu viele Menschen ungeimpft sind. Weil Impfungen ihre Schutzwirkung verlieren. Und weil andererseits eine Gesellschaft, die sich immer wieder verschließt, ihre Freiheiten einschränkt, die sich verkriecht und in Angst- und Hoffnungsschleifen und Vertröstungsszenarien lebt, auf einen kollektiven Burn-out, wenn nicht gar Kollaps zusteuert. (Außer man lebt in China.)
Wir müssen als Gesellschaft nicht nur die Frage der Freiheit diskutieren und differenzierter bewerten, wie es vor Weihnachten etwas erregt getan wurde. Sondern auch die Frage des Risikos.
Omikron ist eine neue Herausforderung
Dieser Tage wurde bei den Infektionen weltweit die Schwelle von 300 Millionen überschritten, vermutlich haben wir nur einen Teil erfasst. Es hat mehr als ein Jahr gedauert, wie die „New York Times“ nochmal vorgerechnet hat, bis weltweit die ersten 100 Millionen Coronavirus-Fälle registriert wurden, und nur die Hälfte dieser Zeit, bis die nächsten 100 Millionen infiziert waren. Die dritten 100 Millionen kamen in knapp fünf Monaten, da große Teile der Menschheit in vielen Ländern, sowohl der reichen als auch der armen, nicht geimpft sind – und weil Omikron sogar diejenigen infiziert, die geimpft sind.
Der Trend deutet allerdings darauf hin, so die „NYT“, dass sich „der düstere Rhythmus der letzten zwei Jahre – eine Welle von Infektionen, gefolgt von einer Welle von Krankenhausaufenthalten und dann Todesfällen -– geändert hat, zum großen Teil wegen des Schutzes, den die Impfstoffe bieten.“ (Lesenswert dazu auch die Analyse auf Twitter des Financial Times-Journalisten John Burn-Murdoch am Beispiel Londons.)
Länder wie Dänemark oder Großbritannien fahren – bisher – einen neuen Konfrontationskurs: Sie kämpfen, sie impfen, aber: Sie lassen Omikron laufen, versuchen „die Welle zu reiten“ , wie Premierminister Boris Johnson es ausdrückte, mit Inzidenzen von über 1000 oder gar 2000. Damit kann Johnson, wie schon früher, scheitern. Aber im Jahr 2022 ist das kein politisches Harakiri mehr. Die bekannte dänische Virologin Tyra Grove Krause geht davon aus, dass Dänemark in zwei Monaten mit der Omikron-Welle durch ist.
Deutschland dagegen verheddert sich seit Wochen in einer Impfpflichtdebatte, die man bis März (!) entscheiden will, während sich auf Omikron allenfalls rhetorisch vorbereitet wird und bei der Bund-Länder-Konferenz bekannte Maßnahmen bekräftigt werden – neue Quarantänezeiten einmal ausgenommen. Während es uns gelungen ist, in Rekordgeschwindigkeit 34 Millionen Menschen zu boostern , sind immer noch 12 Millionen Erwachsene ungeimpft, und davon drei Millionen Menschen über 60 Jahre. Allein Bremen und das Saarland scheinen die Impfziele zu erreichen.
Impffortschritt nach Altersgruppen

Was tun? Die Ungeimpften nerven, „ emmerder“ ? Mobben? Ausschließen? Mit ihnen die Welle reiten? Es wird eine Mischung aus allem sein: Jeder und jede hat das Recht, geimpft oder ungeimpft in die Omikron-Welle zu gehen. Es ist gefährlicher, es ohne Schutz zu tun . Eine Impfpflicht bedeutet ja nur: Er oder sie muss mit den Folgen leben, in dieser Zeit keine Restaurants, Theater oder Kinos besuchen zu können – und möglicherweise schwerer zu erkranken oder zu sterben. Wer die Impfung ablehnt, hat außer über Maskenpflicht und Abstandsregeln keinen Anspruch auf weiteren Schutz seiner Gesundheit.
Den ständigen Ausnahmezustand überwinden
Bedeutet das für diese Menschen ein „Lockdown für immer“, weil sie von Teilen des sozialen Lebens ausgeschlossen sind? Jein. Denn in der Omikron-Welle gehen ja auch Geimpfte nicht mehr entspannt in Restaurants. Wir führen in Teilen eine Debatte mit den Konfliktlinien aus der Delta-Zeit. Omikron hat das Spiel verändert.
Mediziner aus den USA haben, während auch dort die Zahlen explodieren, ein Szenario, in dem das Virus besiegt wird, ausgeschlossen : „Das Ziel für die ,neue Normalität‘ mit Covid-19 beinhaltet keine Ausrottung oder Eliminierung, also keine Null-Covid“-Strategie“. Sie „erfordert die Erkenntnis, dass Sars-CoV-2 nur eines von mehreren zirkulierenden Atemwegsviren ist“. In einem weiteren Artikel hieß es. „Die ,neue Normalität“ tritt ein, wenn die Gesamtzahl der Virusinfektionen der Atemwege, der Krankenhausaufenthalte und der Todesfälle einschließlich der durch Covid-19 verursachten nicht höher ist als in den schwersten Influenzajahren vor der aktuellen Pandemie.“ Es gehe zwar nach wie vor darum, so viele Menschenleben wie möglich retten, aber den „ständigen Ausnahmezustand“ zu überwinden. Regierungen sollten dies unter anderem tun, und das klingt zunächst ungeheuerlich, indem sie Benchmarks für Krankheiten und sogar Todesfälle festlegten.
Letzten Endes aber sind das Fragen, in die uns Omikron geradezu zwingt, und dabei leiten uns folgende Erkenntnisse:
- Wir können in Deutschland 30 Millionen, vielleicht sogar mehr Menschen pro Monat impfen.
- Wir müssen diesen Zyklus mit einer vierten und einer neuen Omikron-Impfung vermutlich bis 2023 fortsetzen.
- Wir erreichen zehn bis zwölf Millionen Menschen bisher nicht. Die Chancen, dass sich das signifikant ändert, sind gering.
- Die Daten stimmen optimistisch, dass Omikron für weniger Hospitalisierungen sorgt
- Andere Länder fahren Inzidenzen, die um ein Vielfaches höher sind, weil Inzidenzen allein nicht mehr zählen
- Ein mehrwöchiger oder monatelanger klassischer Lockdown ist nicht vorstellbar, vielleicht mit Omikron sinnlos
Wir reden also gar nicht mehr über den alten „Team Vorsicht“ versus „Team Öffnung“-Streit, das waren die Lager aus der Wildtypus- und frühe Varianten-Zeit. Es geht nur noch darum, die Welle so gut wie möglich zu reiten. Was man selbst am besten schafft, wenn man dreifach geimpft ist.

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