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Kommentar Politik auf der Intensivstation

In diesem Münchner Restaurant gelten schon strenge Zutrittsregeln
In diesem Münchner Restaurant gelten schon strenge Zutrittsregeln
© IMAGO / ZUMA Wire
Die Corona-Einigung von Bund und Ländern, alter und neuer Regierung löst die Probleme nicht. Aber dass die Gefahr des völligen Desasters zur Rückkehr der partiellen Vernunft führte, macht ein wenig Hoffnung

Es kommt nicht oft vor, dass Politiker das eigene Scheitern offen eingestehen. „Es ist zehn nach zwölf“, sagte der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn an diesem Freitagmorgen in Berlin, und er fügte hinzu: „Wir sind in einer nationalen Notlage.“ Angesichts von Neuinfektionen, die seit Tagen stabil über der Marke von 50.000 liegen, angesichts der Berichte aus Krankenhäusern in Sachsen, Thüringen und Bayern, und der Gewissheit, dass die Folgen dieser enormen vierten Welle erst in drei oder vier Wochen die Notaufnahmen der Hospitäler erreichen wird, ist das wohl eine leider zutreffende Beschreibung der Lage.

Das ist der Hintergrund, vor dem die Einigung von gestern Abend im Kanzleramt und der Beschluss von Bundestag und Bundesrat zu bewerten ist.

Als erstes muss man festhalten, dass es grundsätzlich gut ist, wenn sich Bund und Länder, alte und neue Koalition in diesem Interregnum doch noch zusammenraufen und einen Kompromiss finden. Wobei man einschränkend auch sagen muss: Eine wirkliche Alternative gab es nicht, die aus dem Amt scheidende Union und das mutmaßlich neue Ampelbündnis aus SPD, Grünen und FDP war zur Einigung verdammt. Denn ohne diese Einigung wäre der Gesetzesentwurf der neuen Koalition im Bundesrat heute gescheitert und hätte dieses Land ab nächster Woche, mitten in der größten Krise des Gesundheitssystems, ohne Konzept und Führung dagestanden. Ein größerer Schaden wäre nicht denkbar gewesen, im Grunde war es – traurig genug – nur diese politische Nahtoderfahrung, die die Spitzen der alten und der mutmaßlich neuen Koalition im Bund zur Besinnung gebracht hat.

Weitere Einschränkungen sind möglich

Man muss allerdings noch eine weitere, größere Einschränkung machen: Die Einigung kam nur zustande, weil sie die schmerzhaften und konfliktträchtigen Entscheidungen eher vertagt denn gefällt hat. Der Stufenplan von 3G am Arbeitsplatz bis 2G plus ist sinnvoll , ob er aber reicht, wird von vielen Experten bezweifelt. Immerhin, mit der Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen wie Pfleger, Krankenhausmitarbeiter und Ärzte haben beide Seiten ein echtes Tabu angepackt. Frühestens am 9. Dezember, bei einem weiteren Treffen der Ministerpräsidenten, soll dann entschieden werden, ob es doch noch schärfere Maßnahmen braucht, flächendeckende Schließungen von Bars und Diskotheken etwa wie sie die von der Union geführten Länder fordern, oder einen härteren Lockdown wie ihn heute Österreich wieder verhängt hat. Auf dieser Möglichkeit, dass weitreichendere Maßnahmen noch kommen können, beruht die ganze Einigung.

So ein Vorgehen ist natürlich riskant, medizinisch wie politisch.

Gut möglich, dass zumindest die Infektionszahlen in den nächsten Wochen bereits sinken – eine Erfahrung aus den vergangenen Infektionswellen ist ja, dass die meisten Menschen sehr viel vernünftiger und vorsichtiger sind als viele Politiker, und sie ihre Kontakte bereits von sich aus einschränken, wenn die Zahlen wieder steigen. Aber sicher ist das eben nicht. Genauso möglich ist, dass die vierte Welle anders verläuft, weil eben 70 Prozent der Erwachsenen inzwischen geimpft sind und sich diesmal nicht mehr einschränken wollen. Sie erkranken meist nicht schwer, ihr individuelles Risiko ist – zumindest ohne schwere Vorerkrankungen - überschaubar und ihre Haltung durchaus nachvollziehbar, doch sie verbreiten das Virus weiter und sorgen so dafür, dass die vierte Welle eben nicht wieder abebbt.

Größer aber noch ist das politische Risiko, das in dieser Einigung steckt. Denn inzwischen ist es ja nicht mehr so, dass allein die Corona-Leugner, Impfgegner und sonstigen Querdenker im Land einen gehörigen Frust vor sich herschieben. Sondern spätestens seit diesem Herbst eben auch jene 70 Prozent, die seit bald zwei Jahren jede Einschränkung mittragen, die im Homeoffice arbeiten, nebenher dabei ihre Kinder betreut und unterrichtet haben, die im Zweifelsfall den Besuch bei Freunden lieber sein ließen, und die sich in diesem Frühsommer sofort haben impfen lassen – alles nur, damit dieser Spuk hoffentlich endlich bald vorbeigeht. Und die nun, sehr zu Recht, das Gefühl haben, dass das ganze Land noch mal einen fürchterlichen Corona-Winter durchmachen muss, weil sich ein knappes Drittel offenbar nicht groß schert um die Gesellschaft – und weil eben jene Politiker, die sich nun gestern kurz vor knapp zusammenrauften, über Wochen und Monate zuvor die nötigen Entscheidungen verschleppt haben. Aus Naivität, aus Opportunismus, aus Überforderung.

Warnung für die Politik

Inzwischen steht in der Pandemie mehr auf dem Spiel als die Stabilität des Gesundheitssystems. Es geht um das Zutrauen in die Politik, für klar erkennbare Probleme Lösungen zu finden, am besten einigermaßen schnell und effizient. Nach einer aktuellen Umfrage des Forschungsinstituts Allensbach, die die „FAZ“ am Donnerstag veröffentlichte, sagen nur noch 59 Prozent aller Geimpften, sie hätten Vertrauen in die Arbeit der Bundesregierung. Noch schlechter schneiden nur die Medien ab (40 Prozent), und die Parteien (25 Prozent). Fragt man gezielt nach dem Zutrauen in eine mögliche Ampelkoalition im Bund, geben inzwischen immerhin 48 Prozent an, sie hätten da gewisse Zweifel – im Osten sind es sogar 66 Prozent.

Die gute Erkenntnis dieser Woche ist: Diese Botschaft ist offenbar bei allen Beteiligten in Berlin angekommen. Es ist aber zugleich eine Mahnung an die kommende Koalition und den mutmaßlich nächsten Kanzler Olaf Scholz, die Dinge nicht allzu lang schleifen zu lassen.

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