Bernd Ziesemer ist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint jeden Montag auf Capital.de. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen.
Im Film wird erst nach dem Happy End „gewöhnlich abjeblendt“, witzelte einst Kurt Tucholsky. Nur bei einer Aufführung gilt das genaue Gegenteil: Bei deutschen Hauptversammlungen fällt der Vorhang, wenn es gerade erst spannend wird. 99 Prozent der Konzerne übertragen nur die meist langweiligen Eröffnungsreden des Aufsichtsratsvorsitzenden und des Vorstandschefs live im Internet. Wenn die oft kontroverse Diskussion beginnt, ist regelmäßig Schluss. Bestes Beispiel: das Aktionärstreffen der Deutschen Bank in der letzten Woche. Wer vor Ort in der Frankfurter Messehalle war, erlebte einen dramatischen Nachmittag und Abend. Am Ende bereiteten die Aktionäre ihrem Aufsichtsrat sogar eine krachende Niederlage – und lehnten die Einführung eines neuen Bonussystems für die Vorstände mit klarer Mehrheit ab. So etwas passiert in deutschen Konzernen nur sehr, sehr selten. Doch die Kameras in der Frankfurter Messehalle waren zu diesem Zeitpunkt längst abgeschaltet.
Am 22. Juni wiederholt sich die Geschichte: In Wolfsburg versammeln sich dann die VW-Aktionäre zur wahrscheinlich dramatischsten Hauptversammlung der ganzen Unternehmensgeschichte. Doch auch dort endet die Übertragung, wenn es turbulent wird. Nach den offiziellen Reden ist Schluss.
Es geht um die Eitelkeit der Manager
Bisher übertragen nur sehr wenige Unternehmen ihre Hauptversammlungen in voller Länge im Internet – zum Beispiel die Commerzbank-Tochter Comdirect, die sich als reines Online-Unternehmen dazu verpflichtet fühlt. Einzelne Konzerne bieten wenigstens ihren Aktionären eine volle Übertragung an – beispielsweise die Allianz AG. Doch die Masse verweigert sich einem zeitgemäßen Angebot gelebter Aktionärsdemokratie. Dabei gibt es keinen einzigen vernünftigen Grund dafür – technisch sind selbst vollkommen sichere Abstimmungen über das Internet kein Problem mehr. In Wahrheit geht es einzig und allein um die Eitelkeit der Manager, die auf den Hauptversammlungen regelmäßig keine gute Figur machen, wenn sie sich harten Vorwürfen stellen müssen.
Die volle Übertragung für die Aktionäre ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit im Internet-Zeitalter. Aber auch die breitere Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, die Debatten auf den Hauptversammlungen großer Konzerne zu verfolgen. Schließlich reden die Unternehmen viel über ihre soziale Verantwortung, über ihre Rolle als „good corporate citizen“ und über Kunden und Verbraucher als „stakeholder“. Die Entscheidungen großer Konzerne berühren uns als Bürger, als Steuerzahler oder als Betroffene von Umweltschäden. Deshalb sollten wir alle auch die Chance haben, uns über die Diskussionen auf den Hauptversammlungen zu informieren. Schließlich geht es auf dem VW-Treffen auch um die Interessen von Millionen von Autokäufern, die durch die Betrugssoftware des Konzerns zu Schaden gekommen sind.
Der deutsche Corporate Governance Index fordert die Unternehmen in Ziffer 2.3.3 auf, wenigstens den Aktionären eine Verfolgung der Hauptversammlung über moderne Kommunikationsmedien zu ermöglichen. Es ist Zeit, diese Empfehlung zu erweitern und für verbindlich zu erklären: Übertragt endlich alle Hauptversammlungen in voller Länge im Internet!
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