Bertold Beitz ist bereits seit fünf Jahren tot, aber sein Schatten liegt immer noch über Thyssenkrupp. Der Doyen der deutschen Industrie fühlte sich zeitlebens verpflichtet, den Konzern um jeden Preis „zusammen zu halten“. Alles sollte so bleiben, wie es zur Zeit des letzten persönlichen Eigentümers Alfried Krupp von Bohlen und Halbach in den 60er-Jahren gewesen war. Beitz wurde nicht müde, immer wieder zu betonen, er habe seinem großen Vorbild dieses Versprechen „auf dem Totenbett“ gegeben. Deshalb verpflichtete Beitz auch seine Nachfolger – vor allem die Krupp-Stiftung, den größten Aktionär – sich an diese Leitlinie zu halten.
Jetzt ist es endgültig an der Zeit, mit dieser Idee zu brechen. Der Abgang Heinrich Hiesingers eröffnet bei Thyssenkrupp die Chance, den Konzern grundlegend neu auszurichten. Entscheidend ist dabei die Einsicht, nicht um jeden Preis weiterhin alles zusammenzuhalten, was sich über Jahrzehnte unter dem Dach des Konzerns angesammelt hat. Die Abspaltung des Stahl-Bereichs allein genügt nicht. Thyssenkrupp muss sich von weiteren Aktivitäten trennen, um sich endgültig gesundzuschrumpfen. Nur wenn das Unternehmen in einzelnen Feldern – etwa dem Aufzugsbereich – wirklich an die Weltspitze rückt, sichert es seine Zukunft.
Wiederauflage der Heuschrecken-Debatte
Diese Überlegungen tragen Aktionäre und Kritiker seit langem vor. Doch die Thyssenkrupp-Spitze denunzierte den Abschied vom Konglomerat immer wieder als schnöde „Zerschlagung“. Hiesinger und sein Aufsichtsratschef Ulrich Lehner machten sich damit eine Vokabel zu eigen, die aus den Reihen der mächtigen Betriebsräte stammt. Neudeutsch nennt man so etwas „Framing“: Man schafft ein (in diesem Fall: negatives) Deutungsraster für die gesamte Diskussion, dem sich niemand mehr entziehen soll.
Ein kleiner Vergleich macht deutlich, wie willkürlich und vordergründig das Gerede von der „Zerschlagung“ ist: Bei Siemens loben die meisten Beobachter die endlose Kette von Abspaltungen als Strategie, einen flinken Flottenverband von einzelnen Unternehmen zu schaffen. Bei Thyssenkrupp betonen fast alle nur die negativen Aspekte einer Ausgliederung von Konzernteilen. Im gewissen Sinne erleben wir bei Thyssenkrupp seit zwei Jahren die Wiederholung einer unsäglichen Debatte: Im Mai 2005 hatte der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering ausländische Investoren als „Heuschrecken“ diffamiert, die deutsche Unternehmen nur „aussaugen“ wollten. Das gleiche unterstellen viele dem schwedischen Investor Cevian, der bei Thyssenkrupp als zweitgrößter Aktionär seit langem eine neue Strategie fordert.
Doch diese Kritik wird den Schweden und ihrem deutschen Statthalter Jens Tischendorf nicht gerecht. Cevian hat mir sehr vielen Warnungen bei Thyssenkrupp Recht behalten. Auch der Einspruch gegen die zu niedrige Bewertung des deutschen Stahlbereichs bei der Fusion mit dem indischen Tata-Konzern war notwendig. Nur mit den Arbeitnehmerstimmen im Aufsichtsrat konnten Hiesinger und Lehner ihre Sicht der Dinge zuletzt noch durchsetzen. Doch so kann man auf Dauer einen Konzern nicht regieren.