Der Bundespräsident ist zu einem Symbol geworden, zum Symbol eines Scheiterns, des Selbstbetrugs, einer Verdrängung, eines Irrweges. Als einer der Architekten der Russland-Politik steht er nun als Stellvertreter inmitten einer hitzigen Debatte, was in den vergangenen 15 Jahren schief gelaufen ist.
Er hatte ab 2005 als Außenminister die „neue Ostpolitik”, wie er sie selbst nannte, mit entworfen, deren Ziel „Annährung durch Verflechtung“ war, die logische Fortführung des „Wandels durch Annäherung“ der 1970er Jahre, die 2007 mit einer „Modernisierungspartnerschaft“ auf europäische Ebene ausgedehnt wurde. 2014 sprach Steinmeier von einer „Positiv-Agenda“ gegenüber Russland, führende SPD-Politiker wie Martin Schulz von „gleichwertigen“ Partnerschaften mit den USA und Russland. Das war das Ziel, das Mindset, die Strategie.
Diese Verflechtung schnürt uns nun die Luft ab.
Wieder einmal Vergangenheitsbewältigung also, bei der es um eine Frage geht: Wieso haben wir uns so abhängig von Russland gemacht – oder: Wieso haben wir Putins Russland so falsch eingeschätzt?
Ein schwerer außenpolitischer Fehler
Frank-Walter Steinmeier war nicht die einzige Person, die diese Woche das politische Berlin beschäftigte. Familienministerin Anne Spiegel war zurückgetreten, erst kämpfend, dann zitternd, was allein schon die Energie des Betriebes hätte absorbieren können. Doch ein Staatsoberhaupt, das nicht in die Ukraine reisen darf, ließ den ersten Rücktritt in Olaf Scholz‘ Kabinett fast vergessen. Statt bebende Unterlippe diplomatisches Beben.
Der Affront von Präsident Wolodymyr Selenskyj ist keine Übersprunghandlung, die man mit Kriegsstress und Überlebenskampf mal eben so abtun kann. Er ist ein schwerer außenpolitischer Fehler, und man fragt sich, wie schnell man ihn überspielt oder ausbügelt.
Die Schmähung belastet das ohnehin angeschlagene Verhältnis zwischen Deutschland und der Ukraine. Der Vorfall zeigt aber auch, dass unsere Reputation in Osteuropa insgesamt durch die Russland-Politik stark gelitten hat – und das allein ist Deutschlands Fehler. Diese Russland-Politik ist tot, und sie hat einen Grabstein mit einer Länge 2460 Kilometern, der auf dem Grund der Ostsee liegt.
Man muss allerdings zwei Zeitschienen betrachten und sezieren – eine jüngere, die den Zeitraum seit Kriegsausbruch umfasst. Und eine längere, die Russland-Politik der vergangenen knapp zwei Jahrzehnte.
Wie eine überforderte Mittelmacht
Die Vorwürfe der Ukraine betreffen vor allem unsere Haltung und Handlungen der vergangenen Wochen. Deutschland steht am Pranger, es würde der Ukraine nicht genug helfen. Weil wir zu wenig und zu zögerlich Waffe liefern und weil wir nicht bereit sind, nach der Kohle auch Öl- und Gasimporte sofort zu stoppen.
Beide Themen sind komplizierter und komplexer, als es die emotionalen Posts und Videoclips des ukrainischen Präsidenten oder des außer Kontrolle geratenen Botschafters in Berlin insinuieren. Diese Botschaften sind in der Regel moralisch knackig, emotional und auf den Punkt. Kiew ist damit erfolgreich. Kiew hat Recht. Denkt man. Man sagt sich bei jeder Forderung: Wer kann da schon nein sagen? Vor allem hat die PR-Strategie der Ukraine die Welt klar in Gut und Böse geteilt. Das Problem ist nun: Der gute Teil wird nochmal gespalten.
Man kann Deutschland manches vorwerfen: Dass unsere Regierung bei den Waffenlieferungen zu zögerlich war. Dass unser Kanzler zu leise und zurückhaltend ist. Dass Verteidigungsministerin Christine Lambrecht – die sich mit jedem Tag dieses Krieges mehr als Fehlbesetzung entpuppt – seit dem Helm-Debakel jede Volte von Waffenlieferungen zu einem peinlichen Theater hat werden lassen. Deutschland wirkte wie eine überforderte Mittelmacht, die noch die letzten Brocken der Friedensdividende mampfte, wie ein schales Stück Sahnetorte, das übrig ist.
Aber auch das ist ein Zerrbild.
Denn zwei Dinge kann man Deutschland nicht vorwerfen: dass wir nichts für die Ukraine getan haben – und dass wir uns nicht bewegen.
Beispielloser Traditionsbruch
Der Bruch mit den deutschen Traditionen und Regeln in Bezug auf Waffenlieferungen in den vergangenen Wochen ist in seiner Geschwindigkeit und 180-Grad-Kurvigkeit ohne Beispiel. Man spürt das jeden Tag und in jeder Faser, wenn grüne Politiker laut und öffentlich fordern, mehr zu tun, schneller zu sein. Nicht bei Windrädern, sondern bei Waffen. Man sollte sich immer wieder bewusst machen, wie gefährlich dieses Spiel ist: Wir liefern Waffen für die Ukraine, „für die Freiheit“, wie es heißt – die aber zum Einsatz gegen eine Nuklearmacht kommen.
Die Unbeholfenheit und Hektik, mit der in verschiedensten Depots und Hinterhöfen Waffen, Munition und Kriegsmaterial gesichtet werden, ist auch im übertragenen Sinne eine schmerzhafte Inventur: Jedes verrostete Fahrzeug ist ein Zeichen dafür, dass es in Zeiten des verflossenen Friedens nicht wichtig war.
Wir bewegen uns auch in der Energiefrage schneller, als wir es je für möglich gehalten haben. Dass die viertgrößte Industrienation der Welt innerhalb weniger Wochen große Teile ihrer fossilen Brennstofflieferungen reorganisiert und umstellt, ist ebenfalls beispiellos. Hier zeigt sich, dass die scheinbar moralisch richtige Handlung (sofortiger Stopp) nicht unbedingt die klügste ist. Robert Habeck tut, was getan werden muss – aber verantwortungsvoll und nicht überstürzt und tollkühn.
Es wird ein Tanz am Abgrund
Die Vergangenheitsbewältigung unserer Russland-Politik auf der langen Zeitschiene verlangt mehr als einen Untersuchungsausschuss oder eine Historikerkommission. Am Anfang steht die Einsicht, dass Deutschland und Europa mit Putins Russland keine Geschäfte mehr machen kann. Mit Putin kann sich kein westlicher Staatschef mehr an einem Tisch setzen, außer für Friedensverhandlungen, die Russland aber nicht anstrebt. Wir reden also von einer Krise, die man nicht aussitzen kann und sollte. So nach dem Motto: Ab Sommer produzieren wir wieder. Überall, in Autowerken, Fabriken, Filialen und bei Energiebeteiligungen, drohen Abschreibungen, teils in Milliardenhöhe – oder wurden schon getätigt.
Die Entflechtung der Energiebeziehungen zwischen Deutschland und Russland ist unausweichlich und unaufhaltsam. Es wird ein schmerzhaftes, teures, großes und gefährliches Manöver, ein Tanz am Abgrund. Wir stehen vor einer gigantischen Abwicklung; IKEA, McDonald’s und H&M waren nur die Vorgruppe. McDondald‘s kann wieder aufmachen, auch Playmobil wieder Figuren liefern – mit großen Investitionen ist es auf absehbare Zeit vorbei.
Hier darf Deutschland nicht taktieren oder zögern; je schneller und entschlossener wir sind, desto mehr gewinnen wir das Vertrauen zurück, das wir über Jahre verspielt haben.