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Welternährung Getreideexporte: Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Schwarzmeerkorridor

Der Getreidefrachter „Glory“ stoppt in Istanbul zur Inspektion durch Kontrolleure des vereinbarten Schwarzmeer-Exportkorridors aus der Ukraine.
Der Getreidefrachter „Glory“ stoppt in Istanbul zur Inspektion durch Kontrolleure des vereinbarten Schwarzmeer-Exportkorridors aus der Ukraine.
© picture alliance / AA / Ali Atmaca
Das Abkommen geht nach vier Monaten in die Verlängerung. Für die Welternährungskrise gilt deswegen keine Entwarnung, aber die Ukraine – und auch Russland – profitieren von dem Deal.

Ein abrupter Stopp hätte die Getreidepreise auf dem Weltmarkt wieder nach oben getrieben. Aber der Schwarzmeerkorridor für ukrainisches Getreide bleibt offen. Darauf haben sich die Parteien kurz vor Ablauf des bisherigen Abkommens geeinigt, darunter die Vereinten Nationen. UN-Generalsekretär Antonio Guterres zeigte sich erleichtert. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan feierte seine Vermittlung als erneuten Triumph – er strebt einen Korridor des Friedens an. Die Ukraine hätte sich eine Dauerlösung gewünscht, während Russland seine Zustimmung als Beitrag gegen den Welthunger inszenierte.

Das ist allenfalls Teil der Geschichte. Die Bedeutung der vergangenen 120 Tage ist dennoch nicht zu unterschätzen. Die Schwarzmeerroute ist die weltweit wichtigste Exportroute für Getreide. Sie war seit dem völkerrechtswidrigen russischen Angriff auf die Ukraine gestört. Dass mehr als elf Millionen Tonnen Korn freies Geleit durch verminte Gewässer erhielten und nach Inspektionen der Frachter an der türkischen Meerenge Bosporus die Märkte erreichten, hat zu einer Entlastung der globalen Versorgungslage beigetragen und zu einer deutlichen Preissenkung geführt. Das Getreide kann da ankommen, wo es gebraucht wird.

Die „Black Sea Grain Initiative“ war bis 19. November befristet – mit stillschweigender Verlängerung, wenn nicht eine der Parteien ausgestiegen wäre. Bis zuletzt war jedoch offen, ob Russland im Boot bleiben würde, nachdem Moskau vor wenigen Wochen eine plötzliche Kehrtwende vollzogen hatte – nur um wenige Tage später wieder einzulenken. Der Kreml verfolgt damit eigene Interessen, denn es gibt ein zweites – drei Jahre lang gültiges – Abkommen, in dem die UN sich verpflichtet, negative Auswirkungen westlicher Russlandsanktionen auf russische Agrar- und Düngemittelexporte zu mindern. „Die UN steht dazu, die verbleibenden Hindernisse zu beseitigen“, erklärte Guterres am Donnerstag. Beide Vereinbarungen seien unverzichtbar, so der, um die Preise von Nahrung und Dünger zu senken und eine globale Ernährungskrise zu verhindern“.

Capital gibt einen Überblick über die Bedeutung der Deals.

Was steht auf dem Spiel?

Der Ukrainekrieg hat weitreichende und dauerhafte Auswirkungen auf den Weltagrarmarkt – sowohl für Lebensmittel als auch für Dünger. Die Ukraine und Russland stehen zusammen für 30 Prozent der globalen Weizenausfuhren und sind führende Hersteller von Dünger und seinen Rohstoffen. 90 Prozent der ukrainischen Agrarexporte werden über Schwarzmeerhäfen verschifft, die von der russischen Kriegsflotte blockiert wurden. Die wegen der Coronapandemie schon weltweit erhöhten Lebensmittelpreise sprangen mit Kriegsbeginn auf Rekordhöhen. Dies und steigende Energiepreise ließen besonders in armen Ländern mit hoher Importabhängigkeit die Kaufkraft in den Keller sinken. Libanon, Libyen und Tunesien sind einige der Länder, die hauptsächlich von ukrainischem Weizen abhängen. Überteuerte Düngemittel wiederum gefährden in vielen Ländern die nächste Ernte – auch von Reis.

Was umfasst der Getreide-Deal?

Seit Juli eskortieren ukrainische Lotsen Frachter aus aller Welt von drei Schwarzmeerhäfen durch heimische Gewässer. Vertreter Russlands, der Ukraine, der Türkei und der UN kontrollieren von einem Lagezentrum in Istanbul aus, ob Frachter etwas anderes durch den Bosporus transportieren als Agrargüter. Inhalt des Abkommens ist der Export von Getreide und verwandten Rohstoffen sowie von Düngemitteln und Ammoniak. Angebahnt hatten die „Black Sea Grain Initiative“ die Vereinten Nationen, die auch Unterzeichner des Abkommens sind.

Warum gibt es einen zweiten Deal?

Russland handelt nicht aus Altruismus. Zusicherungen der UN waren erforderlich, um Moskaus Zustimmung zum Schwarzmeerkorridor zu erlangen. Daher wurde ein zweites Abkommen geschlossen: „Mit der Russischen Föderation wurde zugleich eine Einigung über den Umfang des Engagements der Vereinten Nationen erzielt, um den ungehinderten Export von russischen Lebens- und Düngemitteln auf die Weltmärkte zu erleichtern, einschließlich der für die Herstellung von Düngemitteln erforderlichen Rohstoffe.“ Hintergrund ist, dass Moskau seine seegestützten Ausfuhren insbesondere von Düngemitteln durch Nebeneffekte westlicher Sanktionen behindert sah, obwohl der Agrarhandel formell davon ausgenommen ist. Demnach zeigten sich Banken, Versicherungen und Logistiker zurückhaltend. Tatsächlich sank besonders der Export von russischem Dünger in die EU.

Haben sich Moskaus Erwartungen erfüllt?

Aus der Perspektive des Kremls stellt der Doppelpack einen Sieg dar, meint die Ökonomin Ewgenia Sleptsowa von Oxford Economics gegenüber Newsweek, weil westliche Sanktionen damit die russische Wirtschaft weniger hart treffen. Washington und Brüssel passten einige Sanktionen kurz vor dem Deal an, um Nebeneffekte auf den Handel mit Lebensmitteln und Dünger zu bremsen. In einigen europäischen Staaten wurden zu diesem Zweck eingefrorene russische Bankvermögen freigegeben. Bei jüngsten Strafmaßnahmen der EU gegen die größte russische Bank Sberbank wurden Gelder, die zur Finanzierung von Lebensmittel-Transaktionen erforderlich sind, explizit ausgenommen. Damit kann die russische Agro-Industrie, in der besonders die Getreide-Holdings eng mit der politischen Macht im Staat verbunden sind, wieder ungehinderter wirtschaften, meinen Experten von Control Risks. Der Verkauf der Rekordernte 2022 zu attraktiven Preisen an internationale Händler stehe nichts mehr im Weg.

Warum stimmt Russland dann einer Fortsetzung zu?

Moskau hat keinen Grund, ein Instrument aus der Hand zu geben, mit dem es jederzeit die Weltmärkte in Aufruhr versetzen – und mit der Waffe Hunger erpressen kann. Egal, wo mehr Getreide ankommt: Bloße Verhandlungen über den Getreidekorridor versetzen Weltpreise in Bewegung. Das zeigte sich zuletzt Anfang November, als Russland kurzzeitig den Deal aufkündigte – und die Weizenpreise daraufhin um fünf Prozent anzogen.

Allerdings führte das Intermezzo auch die Grenzen russischer Macht vor Augen. Beladene Frachter wurden unter ukrainischer und türkischer Aufsicht einfach weiter durchs Schwarze Meer geleitet; der Stau löste sich binnen Tagen auf. Aus Sicht des Thinktank ECFR ein Zeichen von Russlands Schwäche: Womöglich hätte sich dies bei einem neuerlichen „njet“ wiederholt, außer Wladimir Putin hätte die Konfrontation mit Erdogan riskiert. Doch die Türkei wird auch als Drehscheibe für russische Parallelexporte gebraucht, um westliche Sanktionen zu umgehen sagt Ökonomin Sleptsowa.

Ist der Korridor für die Ukraine die erhoffte Lebensader?

Als am Morgen des 1. August der Frachter Razoni unter Flagge Sierra Leones in Odessa mit 26.000 Tonnen Mais in Richtung Libanon in See stach, war unklar, ob der Korridor halten würde, was er versprach. Wohl wurden auch auf dem Landweg und über die Donau-Schifffahrt fast sechs Millionen Tonnen Getreide über Rumänien exportiert. Weitere Ausfuhren nehmen den Weg über Polen. Aber ein einziger Schüttgutfrachter fasst so viel wie etwa 3000 Laster. Mit einem Exportvolumen von elf Millionen Tonnen Agrargütern auf dem Seeweg kann die Ukraine nicht zufrieden sein. Im August wurde etwa ein Viertel so viel Weizen exportiert wie im Vorjahr. Aber es verschafft einem gebeutelten Land in akuter wirtschaftlicher Not, das zu einem hohen Anteil von der Landwirtschaft abhängt, eine Atempause – und Lagerflächen für die neue Getreideernte.  

Haben importabhängige Länder profitiert?

Aus der Sicht internationaler Agrarhändler ist es unerheblich, mit welchem Ziel die Frachter aus den ukrainischen Häfen ausliefen. Entscheidend sei die Signalwirkung jedes einzigen Getreideschiffs, das den Schwarzmeerkorridor passiert. In gewisser Weise sind die Weltmarktpreise damit Spielball geopolitischer Schwankungen. So fiel der Nahrungsmittelpreisindex (FFPI) der Welternährungsorganisation FAO bis Anfang November 15 Prozentpunkte seit dem Höchststand vom März. Ob Familien in Libanon, Niger oder Bangladesch nun ihre nächste Mahlzeit bezahlen können, wie Außenministerin Annalena Baerbock es formulierte, hängt auch davon ab, ob die gesunkenen Weltmarktpreise bei den Verbrauchern ankommen. Ärmste Länder, die stark von Nahrungsmittelhilfe der UN abhängen, haben mit Sicherheit einige verloren geglaubte Lieferungen erhalten.

Wohin wurde in den vergangenen 120 Tagen geliefert?

Russland hat sich beschwert, dass zu wenige Frachten in den bedürftigsten Importländern ankämen. Auf den ersten Blick mag das stimmen: Von den elf Millionen Tonnen gingen die großen Mengen an Industrieländer – Spanien (2), Türkei (1,5), China (1,3), Italien (1) –, aber auch 430.000 Tonnen nach Ägypten oder 269.000 nach Bangladesch. Nach UN-Angaben ging ein Viertel der Fracht an Niedrigeinkommensländer, darunter Ägypten, Bangladesch, Iran, Kenia, Sudan, Libanon, Dschibuti und Tunesien, zum Teil auch als Nothilfe ans Horn von Afrika und Afghanistan.

Zudem weisen Handelsdaten der EU darauf hin, dass große Mengen ukrainisches Getreide nach Afrika weiterexportiert wurde, statt es von den Schwarzmeerhäfen direkt zu verschiffen. Spanien bezog vor allem Mais für Tierfutter, für den auch in der Vergangenheit die Länder der EU, China und Ägypten die Hauptabnehmer waren. Vor dem Krieg wurde Ware vor allem nach Ägypten, Indonesien, die Türkei, Bangladesch, die Philippinen und Länder Nordafrikas verkauft, mehrere 100.000 Tonnen Weizen gingen außerdem nach Äthiopien, Kenia, Nigeria, den Sudan, Uganda und Mosambik.

Bestimmungsländer ukrainischer Weizenausfuhren vor der russischen Aggression.
Bestimmungsländer ukrainischer Weizenausfuhren vor der russischen Aggression.
© European Union, 2022

Warum ist die Türkei so ein großer Abnehmer?

Der Nachbar am südlichen Ufer des Schwarzen Meers war schon vor dem Krieg ein guter Kunde für Getreide. Die türkische Agarindustrie hat in den vergangenen Jahren stark unter der schwachen Lira und hohen Importpreisen gelitten und hofft nun, durch Zugriff auf ukrainische Exporte das eigene Land besser zu versorgen. Zum anderen wird viel Getreide vor Ort gemahlen und weiterverkauft. 2021 war die Türkei der weltgrößte Exporteur von Weizenmehl. Präsident Erdogan, der – ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen – vor allem die diplomatischen Lorbeeren des Getreideabkommens ernten möchte, sieht sein Land sicher auch als künftige Drehscheibe im Getreidehandel.

Gibt es nun Entwarnung für die Welternährung?

Weder Vertreter des Welternährungsprogramms (WFP) noch entwicklungspolitische Beobachter geben Entwarnung mit der Verlängerung um 120 Tage. Einerseits wird Putin weiterhin als unberechenbarer Spieler gesehen. Andererseits treibt die extrem hohe Inflation bei Lebensmitteln in armen Ländern weiterhin mehr Menschen in Hunger und Armut. So stiegen Preise in Syrien oder Sudan um das Vier- und Siebenfache; aus Libyen, Äthiopien oder Somalia wird von Anstiegen um 100 bis 200 Prozent berichtet. Hinzu komme für häufig bereits verschuldete Länder, dass ein sehr hoher Dollarkurs Getreideimporte zusätzlich verteuere.

Wie ist der Ausblick für die Ukraine?

Zwar wurden zuletzt etwa eine Million Tonnen Getreide, Ölsaaten und Sonnenblumenöl- oder -schrot verladen. Doch fordert Kiew eine Ausweitung des Deals über mehr als drei Häfen gefordert, um die Mengen zu steigern. Denn die Lager sind noch halbvoll und die neue Ernte ist längst eingefahren. Nach Schätzung des US-Landwirtschaftsministeriums (USDA) kommt trotz einer kriegsbedingt deutlich kleineren Menge ein zusätzliches Exportvolumen von 11 Millionen Tonnen Weizen, 12,5 Millionen Tonnen Mais und knapp zwei Millionen Tonnen Gerste auf den Markt. Die Weltbank geht für 2023 von 20 Prozent Ernteeinbußen aus. Winterweizen wurde nach ukrainischen Angaben auf etwas mehr als der halben Fläche des Vorjahres (6,1 Millionen Hektar 2021) ausgesät. Die diesjährige Weizenernte gibt Kiew trotz Raketeneinschlägen, Minen auf den Feldern, zerstörter Infrastruktur und Mangel an Betriebsmitteln wie Dünger, Diesel und Arbeitskräften mit 19 Millionen Tonnen an.

Behindern westliche Sanktionen russische Agrar- und Düngerexporte?

Bis auf höhere Versicherungs- und Abwicklungskosten gibt es dafür keine deutlichen Hinweise. Russland hat selbst Getreide und Dünger mit hohen Exportabgaben belastet und damit Ausfuhrmengen negativ beeinflusst. Dennoch gingen die Ausfuhren vor allem nach Indien und Brasilien in die Höhe. In dem zentral wichtigen Exporthafen Noworossijsk wurden kontinuierlich Getreidefrachter beladen. Allein in den vergangenen sechs Wochen stiegen die Getreideausfuhren nach Berichten von Agrardiensten wegen günstigerer Wettbewerbsbedingungen um mehr als 40 Prozent. Für das Anbaujahr 2022/23 sieht das USDA Russland mit 39 Millionen Tonnen als global führenden Weizenexporteur.

Saftige Ausfuhrzölle auf Düngemittel kritisierte Frankreichs Präsident Macron als „unverantwortlich“. Derzeit plant Moskau eine Abgabe von 23,5 Prozent ab einem Grenzpreis von 450 Dollar/Tonne ab Januar. Ein Spezialfall scheint der Export russischen Ammoniaks von Odessa aus zu sein, welches dort per Pipeline angeliefert wird. Ammoniak ist ein wichtiger Bestandteil von Düngemitteln. Die UN haben der Ukraine zufolge auf Wunsch Moskaus Gespräche über eine Wiedereröffnung der geschlossenen Ammoniak-Pipeline von Russland in den Schwarzmeer-Hafen initiiert. Die Ukraine verknüpfte das Ansinnen aber an die Freilassung von Kriegsgefangenen in russischer Hand.

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