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RWI-Ökonomin „Das Rentenalter zu erhöhen, ist eine effektive Maßnahme“

Monika Schnitzer vom SVR überreicht Kanzler Olaf Scholz das Jahresgutachten 2023/24 des Beratungsgremiums
Monika Schnitzer vom SVR überreicht Kanzler Olaf Scholz das Jahresgutachten 2023/24 des Beratungsgremiums
© IMAGO / Mike Schmidt
Was tun gegen die konjunkturelle Flaute und andere Probleme der deutschen Wirtschaft?  Der Sachverständigenrat hat dazu eine Reihe von Lösungsvorschlägen gemacht. RWI-Ökonomin Almut Balleer über Investitionsanreize, Kapitalmarktreformen und das Rentenalter

Der Sachverständigenrat für Wirtschaft hat in seinem Gutachten vier Problemfelder der deutschen Wirtschaft identifiziert: schwaches Wachstum, wenig liquide Kapitalmärkte, Armutsgefährdung und geringe Einkommen sowie eine schwierige Finanzierungslage bei der Gesetzlichen Rente. Die Sachverständigen machen auch eine Reihe von Lösungsvorschlägen. Almut Balleer, Ökonomin am RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, erklärt und bewertet die Empfehlungen des Gremiums.

Was sind die wichtigsten vom Sachverständigenrat festgestellten Punkte?
ALMUT BALLEER: Die deutsche Volkswirtschaft wächst zurzeit nur sehr, sehr gering und droht zu schrumpfen. Das ist bedenklich, vor allem auch durch das schlechte Abschneiden im europäischen Vergleich. Ursache ist die Energiekrise, aber auch strukturelle Schwächen, die langfristig das Wachstum beeinflussen. Zu diesen Schwächen zählen die niedrige Investitionsquote, der Fachkräftemangel, der sich durch die demografische Entwicklung perspektivisch verstärken wird, sowie die hohe Energieabhängigkeit einiger Industriezweige. Der Sachverständigenrat betont die Handlungsnotwendigkeit hinsichtlich dieser Wachstumshemmnisse und schlägt entsprechende Reformen vor.

Der Sachverständigenrat konstatiert der deutschen Wirtschaft „deutliche Wachstumshemmnisse für die kommenden Jahrzehnte“. Stimmen Sie zu?
Ja, die oben genannten Hemmnisse betreffen die deutsche Wirtschaft in ihrer Breite. Durch den Fachkräftemangel sind zum Beispiel fast alle Industrien betroffen. Zudem betreffen die Hemmnisse in der Produktion sowohl den Faktor Arbeit (Fachkräfte) als auch den Faktor Kapital (Investitionsschwäche). Da also beide Faktoren betroffen sind, kann einer schwieriger durch einen anderen ausgetauscht werden, was Anpassungsprozesse erschwert. Da viele der oben genannten Hemmnisse zudem struktureller Natur sind, sind Gegenmaßnahmen langsam, schwierig und teuer. Arbeitskraft und Kapitalstock aufzubauen, zum Beispiel durch Aus- oder Weiterbildung oder Investitionsprogramme in arbeitssparende Technologien, braucht Zeit.

Bei der Analyse der Einkommensverteilung stellt der Sachverständigenrat eine Zunahme der Armutsgefährdung in Deutschland fest und empfiehlt Reformen. Wie bewerten Sie diese?
Der SVR schlägt eine Reihe von Maßnahmen vor, die sowohl die Armutsgefährdung direkt, aber auch indirekt beeinflussen. Direktzahlungen sind vor allem in Krisenzeiten schnell und wirksam, wie zum Beispiel zur Abfederung extremer Inflationsentwicklungen. Mittel- bis langfristig verringert vor allem Erwerbstätigkeit die Armut. Maßnahmen zur Erhöhung und Erhaltung der Erwerbstätigkeit wirken daher indirekt auf Armut. Da hier vor allem Frauen und Mütter betroffen sind, wirken eine Reform des Ehegattensplittings oder der Ausbau der Kinderbetreuung besonders auf diese Gruppe hin. Weiterbildungs- und Gesundheitsmaßnahmen zielen auf den Erhalt der Beschäftigung oder die spezielle Betroffenheit von Arbeitslosigkeit ab, zum Beispiel wenn durch sich durch den Strukturwandel die Arbeitsnachfrage nachhaltig ändert. Die Umsetzung der Maßnahmen legt einen Schwerpunkt auf die Zielgenauigkeit der Maßnahmen für tatsächlich Betroffene. Hierzu ist eine evidenzbasierte Forschung und Politikberatung notwendig, für die eine bessere Dateninfrastruktur notwendig ist. Das ist auch eine zentrale Komponente des SVR-Gutachtens.

Zur Sicherung der GRV schlägt der Sachverständigenrat eine Anpassung des Rentenalters an die „fernere Lebenserwartung“ vor. Ist dies eine sinnvolle Maßnahme?
Der demografische Wandel stellt die Rentenversicherung vor große finanzielle Herausforderungen. Das Rentenalter zu erhöhen, ist eine direkte und effektive Maßnahme, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Die Berechnung mit der ferneren Lebenserwartung passt die Festlegung des Rentenalters an die tatsächliche Entwicklung der Lebenserwartung an.

Der europäische Kapitalmarkt sei reformbedürftig, so das Jahresgutachten. Er sei in der aktuellen Form nicht geeignet, um den zukünftigen Finanzierungsbedarf der deutschen Wirtschaft zu stemmen. Stimmen Sie zu? Wie bewerten Sie die vorgeschlagenen Reformen?
Um die Investitionslücke zu schließen, müssen Mittel nicht nur aus staatlichen Investitionen fließen, auch privat kann finanziert werden. Deutsche Unternehmen und private Haushalte investieren im internationalen Vergleich wenig. Um diese Investitionen anzuschieben, schlägt der SVR weniger tatsächliche Reformen des Kapitalmarktes vor, sondern eine Vielzahl von Maßnahmen, die Investitionen beanreizen. Zum Beispiel steuerliche Änderungen für Unternehmen oder eine kapitalgedeckte Altersvorsorge. Das ist grundsätzlich sinnvoll, weil die Mehrinvestitionen der Haushalte auch den Finanzierungsproblemen der GRV oder Einkommens- und Vermögensungleichheit entgegenwirken.

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