Es gibt Sätze, die sind wie ein Bumerang – sie kommen immer wieder zurück. Der Satz „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“, ist so ein Satz. Er stammt von Christian Lindner, dem FDP-Chef und Bundesfinanzminister, und man wüsste gerne, wie oft Christian Lindner den Moment schon verflucht hat, als er diesen Satz sagte.
Gut, er war damals, im Herbst 2017, noch nicht Bundesfinanzminister, sondern lediglich ein heiß umworbener Parteichef, der gerade Koalitionsgespräche beendet hatte. Aber natürlich war allen, auch Lindner selbst, kurz darauf klar, dass er an diesem Satz immer wieder gemessen werden würde. Zumal es Lindner in den vergangenen zwölf Monaten, nun endlich in Regierungsverantwortung, zu seinem Markenzeichen gemacht hat, immer wieder „Nein“ zu sagen zu in seinen Augen unsinnigen Ansinnen seiner beiden Koalitionspartner, SPD und Grüne: beim Gebäudeenergiegesetz etwa (aka „Habecks Heizungs-Hammer“ aka „Wärmepumpen-Wahn“), beim Aussetzen der Schuldenbremse und zuletzt beim Lieferkettengesetz.
Immer wieder also sagt Lindner „Nein“ – und danach bemühen seine oberschlauen Kommunikationsstrategen jedes Mal ein uraltes Wort, aus dem seine FDP schon in den 90er Jahren ihre Existenzberechtigung zog: Die Liberalen seien keine Verhinderungspartei, sondern „ein Korrektiv“, sagen diese Strategen mit erhobenem Zeigefinger heute, ein Korrektiv, das Schlimmeres verhindere. Und dann nicken sie immer ganz vehement mit dem Kopf.
So weit, so schön. Aber wo, so möchte man am Ende dieser Woche fragen, war dieses Korrektiv, als man es einmal wirklich gebraucht hätte? Als es galt, den gröbsten Unfug in der Rentenpolitik seit Jahrzehnten aufzuhalten?
Als Korrektiv, geschweige denn als Verhinderer, war da von Lindner und seiner FDP leider nichts zu sehen, im Gegenteil. Auf Drängen der SPD reichte der Finanzminister die Hand zu einem Reformpaket in der gesetzlichen Rente, dessen jährliche (!) Kosten in den nächsten zehn Jahren auf bis zu 35 Mrd. Euro anwachsen werden – und für das auch noch jedes Jahr zig Milliarden neue Schulden gemacht werden sollen.
Im Kern sieht der Plan der Ampelkoalition zwei Dinge vor: Anders als bisher beschlossen, wird das Rentenniveau in den nächsten zehn Jahren nicht Schritt für Schritt ganz leicht abgesenkt, sondern es wird auf dem heutigen Wert von 48 Prozent eingefroren. Dazu wird ein bestimmter Faktor ausgesetzt, den die zweite rot-grüne Koalition im Jahr 2004 in die Rentenformel einfügte und der die Renten- und die Lohnentwicklung ein bisschen entkoppeln sollte. Im Gegenzug soll der Bund, das war der Köder für die FDP, künftig jedes Jahr rund 12 Mrd. Euro oder auch ein bisschen mehr an neuen Schulden aufnehmen, um dieses Geld dann weltweit am Aktienmarkt zu investieren. Dieser Kapitalstock – 2035 hofft man auf rund 200 Mrd. Euro – soll dann Erträge abwerfen und den fälligen Anstieg des Rentenbeitrags wenigstens etwas abmildern.
Um es mit einem Satz zu sagen: Dieses Vorhaben katapultiert das Land sozialpolitisch zurück in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Alle schmerzhaften Reformen in der Altersvorsorge sind damit – bis auf die Rente mit 67 – zurückgedreht. Konnte der alte Doyen der Rentenpolitik, Bert Rürup, der all diese Maßnahmen einst ersann, vor wenigen Jahren noch behaupten, wenigstens das demografische Problem habe Deutschland gelöst, so kann das Land mit dieser Reform wieder von vorne anfangen. Es ist sogar schlechter dran als vor 20 Jahren, weil auch die Ausgaben in der Kranken- und Pflegeversicherung seither massiv ausgeweitet wurden.
Und ausgerechnet ein FDP-Minister, der sonst von sich behauptet, jeden gröberen Unfug in dieser Regierung zu verhindern, macht dabei auch noch aktiv mit.
Denn wie alles in dieser Koalition aus drei Parteien gehorcht auch dieser Plan einer unbestechlichen Logik: Für jeden Euro, den die SPD ausgeben darf, bekommen auch Grüne und FDP ein kleines Geschenk. Was den Grünen ihre Klimasubventionen sind, das ist der FDP seit Jahren schon der Ausbau der Kapitaldeckung in der Altersvorsorge.
An sich ist die Idee auch richtig, im Zusammenspiel mit den realitätsfernen Wohlfahrtsfantasien der heutigen Sozialdemokratie wird diese Idee aber pervertiert: Statt den absehbaren Anstieg der Rentenbeiträge in einer alternden Gesellschaft zu bremsen, dient die Kapitaldeckung nun vor allem dazu, Leistungen wieder auszuweiten, die eigentlich schon eingeschränkt waren. Die Kosten dafür tragen in beiden Fällen – für das höhere Rentenniveau ebenso wie für Christian Lindners neue Schulden (ja, es gibt auch wieder Zinsen!) – jüngere Arbeitnehmer und künftige Generationen. Was für Lindner sonst ein Argument ist, höhere Schulden abzulehnen, ist plötzlich vertretbar.
Mit einer Politik, die sich an Grundsätzen und nachvollziehbaren Gründen orientiert, hat das nichts mehr zu tun. Das ist auch keine Politik nach Kassenlage, sondern nach Willkür. Es passt halt gerade gut in den Kram.
Ja, Lindners Generationenkapital, wie er den neuen Kapitalstock in der Rente nennt, wird wahrscheinlich mehr Geld abwerfen als er an Zinsen kosten wird. Das ist gut. Aber dieser Gewinn dient nicht dazu, für die heute Jungen die Kosten der alternden Gesellschaft abzumildern (wie es richtig wäre), sondern stattdessen den heute Älteren (denen es besser geht als jeder nachfolgenden Generation) noch etwas mehr zu geben. Böse könnte man sogar sagen: Indem der Bundesfinanzminister absehbare Lasten für den Bundeshalt in einen Schuldentopf verlagert, erhöht er sogar den Spielraum im Haushalt für andere Wahlgeschenke – vielleicht noch einen Klimatopf für die Grünen; oder vielleicht doch mal eine Steuerentlastung für die Liberalen.
Im Grunde ist das neue Generationenkapital für die Rentenkasse nichts anderes als das Sondervermögen für die Bundeswehr oder der gerade vom Bundesverfassungsgericht zurechtgestutzte Klima- und Transformationsfonds: ein Schattenhaushalt. Mit dem einen Unterschied, dass nach den Regeln des Grundgesetztes Schulden für den Ankauf von Aktien der Schuldenbremse egal sind: Sie gelten als „Vermögenstausch“, den Schulden auf der einen Seite steht ein Vermögen auf der anderen Seite gegenüber. Dass dieses in Aktien gebunden ist, idealerweise global verteilt und nicht nur auf Deutschland konzentriert, ist ebenfalls egal.
Langfristig stehen die Chancen gut, dass das Kalkül dieser Konstruktion aufgehen wird und die Renditen aus dem Aktienvermögen die Zinskosten für die Schulden übersteigen werden. Aber das würde genauso gelten für schuldenfinanzierte Investitionen in neue Autobahnbrücken, moderne Schulen, bessere Hochschulen und vielleicht sogar für niedrigere Steuern für Unternehmen und Arbeitnehmer, die das Wachstumspotenzial des Landes verbessern – was dringend nötig wäre. Nur, das verbietet die Schuldenbremse heute und hier verweigert der FDP-Finanzminister Christian Lindner eine sinnvolle Reform.
Wie gesagt, viel spricht für eine stärkere Kapitaldeckung in der Altersvorsorge. Aber individuell durch jeden Einzelnen – wie das geht, hat Capital unter anderem hier sehr übersichtlich zusammengestellt. So war es in den Rentenreformen der 1990er- und 2000er-Jahre angelegt, diese hätte die Koalition sinnvoll weiterentwickeln können, etwa durch günstigere Angebote und eine neue Vorsorgepflicht. Statt die private Altersvorsorge voranzubringen, werfen sie das ganze Land nun jedoch zurück.
Hier hätte die FDP einmal das Korrektiv sein können – ja, sogar sein müssen.