Daniel Saurenz betreibt das Investment- und Anlageportal Feingold Research. Der Journalist hat unter anderem für Börse Online und die Financial Times Deutschland geschrieben
Postfaktisch. Dieses Wort kannte bis Sommer 2016 kaum jemand, dann eroberte es erst die Redaktionen und dann die Talkshows. Die AfD argumentiert mitunter jenseits von Fakten und hat das Gefühl für sich entdeckt, auch Marine Le Pen in Frankreich und Donald Trump in den USA sehen im Faktencheck miserabel aus. Alle haben aber einen großen Vorteil – die offiziellen und richtigen Zahlen sind nicht immer die echten Zahlen. In Deutschland liegt die Erwerbsquote zwar auf hohem Niveau, doch kommen viele Menschen mit dem Lohn gerade so über die Runden.
In Frankreich versinken Rentner in Armut, doch die größte Divergenz ist in den USA zu beobachten. Die offizielle Arbeitslosenzahl rückt Richtung Vollbeschäftigung während gleichzeitig allein im Raum Los Angeles jede Nacht rund 35.000 Menschen auf der Straße schlafen – so viele wie in ganz Deutschland und auch das ist kein Ruhmesblatt. Die Wirtschaftsdaten haben manchen Politiker blind gemacht und genau in diese Lücke stoßen Rechtspopulisten. Wissenschaftler wie Paul Krugman fordern ebenso wie der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis oder Sahra Wagenknecht von der Linken, das Dogma der Schuldenbremse und die Warnungen vor Staatsverschuldung endlich sein zu lassen.
Krugman sagt: „Zur vermeintlichen Schuldenkrise: Wir haben derzeit ein einigermaßen stabiles Verhältnis zwischen Schulden und BIP, und es gibt keinen Hinweis auf ein Finanzierungsproblem. Behauptungen, dass etwas Schreckliches passieren werde, basieren auf der Annahme, dass die Haushaltssituation sich mit der Zeit dramatisch verschlechtern wird.“ Er spricht sich für Verschuldung aus. „Das Problem ist viel kleiner als die Kritiker behaupten, und die Forderung nach unmittelbaren Maßnahmen ist schlichtweg inkohärent“, sagt Krugman.
Die US-Wirtschaft ist anfällig
Zur Wahrheit gehört auch, dass die Infrastruktur der USA marode ist und es gerade in den Staaten zwischen Silicon Valley und Ostküste viel zu tun gibt – genau dort, wo Trump so stark punkten kann und viele eine Diskrepanz zwischen Zahlen und Wirklichkeit sehen. Wer sich die Lage vieler „Überflugstaaten“ in den USA oder den sogenannten „Rostgürtel“ anschaut, muss schon unter selektiver Wahrnehmung leiden, um die These zu vertreten, dass alles gut sei.
Eine weiß es besser – Fed-Chefin Janet Yellen. Die US-Wirtschaft ist anfällig und Yellen weiß das ganz genau im Gegensatz zu einigen ihrer Begleiter. Wie stark sich die US-Wirtschaft zuletzt abgekühlt hat, zeigt eine Serie von Konjunkturdaten unmissverständlich: So lagen die Einzelhandelsumsätze zuletzt um nur mehr 1,9 Prozent über dem Vorjahresniveau. Ein derart geringes Wachstum gibt es üblicherweise nur in Rezessionszeiten, also bei einem Schrumpfen der Wirtschaft. Logisch, wenn Mieten immer weiter steigen und mögliche Konsumenten aus der Mittelschicht weniger Geld zur Verfügung haben. Denn deren Einkommen sind in den letzten Jahrzehnten bezogen auf die Kaufkraft immer weiter gesunken.
Da die Wirtschaft zu 70 Prozent vom Konsum der privaten Haushalte abhängt, sind derart schwache Einzelhandelsumsätze ein starkes Warnsignal. Bedenklich ist zudem, dass die Autoabsätze in vier der vergangenen sechs Monate jeweils unter dem Vorjahresniveau lagen. Angesichts der Serie schwacher Konjunkturdaten haben die Volkswirte ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum 2016 auf das Rekordtief von 1,5 Prozent eingedampft. Am Jahresanfang hatten die Experten noch ein Plus von 2,5 Prozent vorhergesagt.
Extreme Ungleichheit nützt Trump
Yellen und Trump sind zwei Seiten einer Medaille – der US-amerikanischen Lüge. Fünf Prozent – so hoch weist die offizielle Statistik in den USA die Arbeitslosenquote aus. Legt man eine Berechnungsweise der 90er-Jahre zugrunde, die Teilzeitarbeiter und marginal Beschäftigte angemessen berücksichtigt, schnellt die realistische Arbeitslosenquote auf 24 Prozent nach oben. Trump argumentiert mitunter mit bis zu 46 Prozent. Das ist postfaktisch und nicht belegt, doch dass 4,9 Prozent nicht zur Wirklichkeit passen, spüren die Amerikaner. Brötchen wenden bei McDonalds in Teilzeit oder ein übel bezahlter Nebenjob sind eben längst keine vollwertigen Jobs.
Dazu genügt ein Blick auf die Häuserpreise und Mieten beispielsweise im Großraum San Francisco um zu verstehen, dass sich viele Amerikaner selbst bei einem normalen Job das Leben in bestimmten Regionen kaum noch leisten können. Millionengehälter aus dem Silicon Valley und das eigene Auto als „Wohnung“ liegen in der ehemaligen Hippie-Heimat San Francisco dicht beieinander.
Das extreme Ungleichgewicht, das viele nicht sehen wollen, hat die Chancen von Donald Trump massiv erhöht, auch wenn sich die Kluft unter ihm als Präsidenten noch vertiefen würde. Doch wie Filmemacher Michael Moore anführt, werden viele Amerikaner Trump wählen, einfach weil sie es können, selbst wenn es am Ende nicht reichen dürfte.
Trump wird nicht siegen und auch Frauke Petry oder Marine Le Pen bleiben den Europäern hoffentlich erspart. Doch die Probleme, die sie dankbar aufgreifen, sollten auch die alten, vermeintlich etablierten Politiker benennen und anpacken – notfalls auch mit Konjunkturprogrammen und sinnvoller Verschuldung. Sonst könnte es besonders in Europa passieren, dass man brav nach Wolfgang Schäuble spart, aber am Ende die Geister nicht mehr los wird, die man mit dem Sparen zu Lasten der Klein- und Mittelverdiener gerufen hat.