Seit Jahren schaut die Welt den Zentralbanken dabei zu, wie sie alle möglichen Instrumente zur Stützung des Wachstums in die Hand nehmen. Jetzt da diese Instrumente an ihre Grenzen gelangen, intensivieren die Regierungen langsam ihre eigenen Bemühungen. Die Finanzpolitik in den Industrieländern sendet zum ersten Mal seit dem Ende der Rezession wieder stimulierende Impulse aus.
Das könnte die am meisten unterschätzte ökonomische Entwicklung des Jahres sein. Während der Stimulus in Dollar gemessen noch bescheiden ist, signalisiert er doch eine tiefergehende Veränderung der politischen Großwetterlage.
Weltweit hat der Aufstieg des politischen Populismus dazu geführt, dass die Defizitprobleme auf der Prioritätenliste nach unten gerutscht sind. Dagegen wandern Steuersenkungen und andere Wohltaten nach oben. Wenn eine kritische Masse erreicht wird, könnten solche Maßnahmen bei den Zentralbanken dazu führen, dass sie ihre ultralockere Geldpolitik überdenken, wodurch den derzeitigen niedrigen Anleiherenditen und teuren Aktien die Grundlage entzogen würde.
Finanzpolitik stimuliert Wachstum
Den fiskalischen Wandel kann man leicht übersehen, weil sich die Regierungen zumindest rhetorisch weiter zu einer Politik der Schuldenreduzierung bekennen. Aber die Zahlen sagen etwas anderes. In den großen Volkswirtschaften – einschließlich USA, Japan und Großbritannien – werden die Haushaltsdefizite entweder größer sein als letztes Jahr oder aber größer als ursprünglich geplant. Ökonomen von J.P. Morgan gehen davon aus, dass die Finanzpolitik zum ersten Mal seit 2009 statt eines neutralen oder negativen Effekts positive Auswirkungen auf das Wachstum der Industrieländer haben wird.
Es wird zwar angenommen, dass dieser Impuls im kommenden Jahr nachlassen wird, die Ereignisse insbesondere in den USA könnten diese Vorhersage jedoch durchkreuzen. Höhere Schulden gehören indirekt zu den Programmen beider Präsidentschaftskandidaten. Der Republikaner Donald Trump enthüllte vor kurzem eine ganze Reihe von Subventionen und Steuererleichterungen für die Kinderbetreuung und den Mutterschutz – nicht gerade republikanische Prioritäten. Wie das finanziert werden soll, verriet er nicht.
Der unmittelbare Anlass für die finanzpolitische Kehrtwende war das britische Votum zum Austritt aus der Europäischen Union am 23. Juni. Die dadurch hervorgerufenen Unsicherheiten bedrohen nicht nur das globale Wirtschaftswachstum, sie erinnerten die Parteien der politischen Mitte auch daran, wie unzufrieden ihre Wähler mit dem ökonomischen Status quo sind.
Der britische Schatzkanzler George Osborne kassierte sein Ziel eines Haushaltsüberschusses bis 2020 rasch wieder ein. Trotzdem wurde er von der neuen Premierministerin Theresa May geschasst, die die regierende Konservative Partei in eine populistischere Richtung lenken will, wo die Betonung stärker auf Ungleichheit, Wohnungseigentum und Unternehmensverantwortung liegt und weniger auf dem Haushaltsdefizit.
Der Appetit auf Sparmaßnahmen schwindet
Eine ähnliche Dynamik entfaltet sich in der Eurozone. Im Juli entschied sich die EU-Kommission gegen eine Bestrafung Portugals und Spaniens, die ihre Ziele zur Verringerung des Haushaltsdefizits verfehlt haben. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble, eigentlich der Schuldenpolizist des Blocks, stellte sich hinter die Entscheidung. Auch Zuhause ist er weniger enthaltsam: Für 2017 hat Schäuble Steuererleichterungen und eine Erhöhung des Kindergeldes im Volumen von 2 Mrd. Euro versprochen und nach 2018 soll es Steuersenkungen im Umfang von 17 Mrd. Euro geben.
Diese Maßnahmen sind sicherlich klein und sie werden nur dazu führen, dass der deutsche Haushaltsüberschuss nicht weiter wächst. Jacob Kirkegaard vom Peterson Institute for International Economics ist aber der Meinung, dass größere Konjunkturspritzen kommen könnten. Kanzlerin Angela Merkel verliere an Rückhalt zugunsten der Zuwanderungsgegner von der Alternative für Deutschland und „benötigt Steuersenkungen, um nervöse Kollegen zu beschwichtigen“, sagt Kirkegaard. Die Wahlen in Frankreich, Deutschland und den Niederlanden im kommenden Jahr – möglicherweise auch in Spanien und Italien – könnten den Appetit auf Schuldensenkungen weiter mindern.
In Japan kamen die Impulse in diesem Jahr ebenfalls vom Brexit und der Einführung negativer Leitzinsen durch die Bank von Japan. Letzteres funktionierte nicht wie gewünscht: Der Yen verteuerte sich und die Aktienkurse gaben nach. Im August stellte Premierminister Shinzo Abe ein 73 Mrd. Dollar umfassendes Ausgabenpaket vor, das Mittel für die Infrastruktur, Geldzuwendungen für arme Familien und andere stimulierende Maßnahmen umfasst.
Rückkehr zum Normalzustand
In den USA wurden die 2011 eingeführten Ausgabenbeschränkungen bereits wieder gelockert. Die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton wirbt in ihrer Wahlkampagne für Mehrausgaben, die zahllosen Programmen zugutekommen sollen von der Bildung bis zur Infrastruktur. Finanziert werden soll das meiste durch eine höhere Besteuerung der Reichen. Ob sie das im Kongress durchsetzen kann, ist eine andere Frage. Die Republikaner im Kongress würden Trump sicherlich Teile seiner Wunschliste erfüllen, auf der hohe Ausgabensteigerungen und weitreichende Steuersenkungen stehen, fast immer ohne Gegenfinanzierung.
Trumps Aufstieg zeigt, dass die Sparpolitik ihren Schwung verloren hat, den sie 2010 besaß. „Es ist die natürliche Neigung von Politikern in längeren Phasen mit niedrigen Wachstumsraten, mehr Geld ausgeben zu wollen“, sagt Kirkegaard. „In diesem Sinne kehren wir zum Normalzustand zurück.“ Die Zentralbanken könnten dem Wandel Kredit gewähren. Als sich abzeichnete, dass der Nutzen der Null- bzw. Negativzinsen verschwand und die Nebeneffekte zunahmen, haben die Notenbanker die Finanzminister aufgefordert, ihrerseits die Konjunktur zu stützen. Die Niedrigzinspolitik hat dazu geführt, dass die Kosten des Schuldendienstes drastisch gesunken sind. Das verringert das Risiko einer Schuldenkrise und beschert den Finanzministern einen warmen Geldregen.
Aber auch wenn sie die fiskalische Unterstützung begrüßen, müssen die Zentralbanken ihre eigenen Pläne überarbeiten. In den USA, Großbritannien, Japan und Deutschland ist die Arbeitslosigkeit auf oder sogar unter das Vorkrisenniveau gesunken. Dadurch könnte der Druck auf die Europäische Zentralbank und die Bank of Japan nachlassen, ihre Anleihekäufe auszuweiten oder die Zinssätze noch weiter in den negativen Bereich zu drücken. Und die Fed könnte sich ermutigt fühlen, die Zinssätze ein bisschen schneller anzuheben. Anleiheinvestoren, nehmt Euch in Acht!
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