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Debatte Plötzlich will jeder Deutscher sein

Warum es mit "cool Britannia" vorbei und ein deutscher Pass mit dem Bundesadler nun begehrt ist. Von Frederick Studemann

Frederick Studemann ist Redakteur der Financial Times. Seine Familie hat deutsche Wurzeln. Studemann selbst war Berlin-Korrespondent der FT und drei Jahre lang Redakteur bei der inzwischen eingestellten Financial Times Deutschland

Es ist noch gar nicht so lange her, da war es eine Bürde Deutscher in Großbritannien zu sein. Es galt, das Flakfeuer urkomischer Witze und umwerfend alberner Gangarten stoisch zu ertragen. Im besten Fall waren Deutsche wie ihre Autos - langweilig und verlässlich. Und im schlechtesten Fall... naja, Sie wissen schon.

Was für einen Unterschied ein Referendum machen kann. Seit die Briten im Juni dafür gestimmt haben, die EU zu verlassen, vergeht kein Tag, ohne dass jemand eine Bemerkung darüber macht, „wie froh ich sein kann“, dass ich im Besitz eines kaminroten Passes mit dem Bundesadler bin.

Derweil wird in den Medien darüber berichtet, dass britische Juden die Staatsbürgerschaft zurückerlangen wollten, die ihren Vorfahren von den Nazis genommen worden war. Und lokalen deutschen Behörden zufolge sind die Anträge britischer Expatriats auf Einbürgerung massiv gestiegen, ähnliches vermeldet auch die Botschaft in London. Jeder, so scheint es, will nun Deutscher sein.

Begeisterung fürs Deutschwerden

Das ist Lichtjahre entfernt von meiner Jugend, als viele Deutsche gern bereit waren, ihre Pässe in beliebtere Alternativen umzutauschen – oder zumindest die nationale Identität in einen größeren europäischen Kontext zu sublimieren. Jetzt dagegen hat der deutsche Pass, zusammen mit dem schwedischen, in Umfragen eine Favoritenposition erobert, was Visa-freies Reisen in der Welt angeht.

Die Begeisterung fürs Deutschwerden geht über die praktischen Aspekte einer Post-Brexit Identität in der EU hinaus. Falls Sie es noch nicht gehört haben: Berlin ist die coolste Stadt in Europa. Sie hat Ecken und Kanten, ist kunstverliebt und strotzt vor Geschichte. Und, für die gebrannten Kinder des Londoner Immobilienmarktes noch besser: Berlin ist billig. Die deutsche Hauptstadt steht im Zentrum einer grundlegenden Überholung der Marke Deutschland.

Das Land ist heute offener und entspannter, mehr im Reinen mit sich selbst. Und ganz sicher heterogener. Angela Merkel ist ungeachtet der jüngsten Entwicklungen, die am meisten geachtete Regierungschefin der Welt. Die aktuelle Fußballnationalmannschaft hat mehr Stil als ihre Vorgängerteams und gewinnt trotzdem Spiele auf internationaler Ebene (anders als manche andere).

Brexit bedroht die Freizügigkeit

Wenn man dann noch die gesunde Wirtschaft und gute Lebensqualität dazu nimmt, beginnt das wie ein attraktives Angebot auszusehen. Und so bekommt man inzwischen immer häufiger die gleiche Geschichte zu hören: Das Eigenheim in London wird zur Miete ausgeschrieben und das Leben am Rande von Kreuz-Kölln lockt. Kraut rocks. (Ich habe noch nicht allzu viele Leute getroffen, die auch die Verlockungen der deutschen Grammatik rühmen, aber warten wir es ab.)

Diejenigen, die schon mit der deutschen Bürokratie zu tun hatten, wissen allerdings, dass es nicht ganz so einfach ist, Deutscher zu werden. Ich gestehe, dass ich mich als Mitglied der kosmopolitischen Klasse ohne Wurzeln (ich würde „Elite“ sagen, aber ich lebe im Londoner Stadtteil Lambeth), die die Gunst der Regierung von Theresa May so vollständig verloren hat, bisher einer bedauernswert lässigen Haltung gegenüber den Pass-Arrangements meiner Familie schuldig gemacht habe. Wir vier verfügen über Pässe aus drei Nationen.

Bisher war das nie ein Thema. Aber der Brexit bedeutet, dass für einige von uns die Freizügigkeit eingeschränkt werden könnte. Und er schafft einen (für einen von uns) neuen Status: „Unterpfand“ für die anstehenden Verhandlungen zwischen London und den anderen EU-Mitgliedern. Und so verbringen wir nun Abende damit, Geburtsurkunden zu suchen und uns mit dem Kleingedruckten haarspalterischer Regularien zu ordentlich beurkundeten Nachnahmen zu beschäftigen.

Der Brexit erzeugt mehr Deutsche

Die Begeisterung für Deutschland kommt zu einem für das Land schwierigen Zeitpunkt. Die Frage der nationalen Identität steht nach dem massenhaften Zustrom von Flüchtlingen ganz oben auf der Agenda und wird bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr eine wichtige Rolle spielen. Für Außenstehende mag Deutschland aussehen wie eine Oase der Stabilität in einer Union und einer Region drumherum, die zunehmend instabil scheint.

Für viele in Deutschland sehen die Dinge nicht so rosig aus. Angesichts der Größe und des Wohlstandes von Deutschland sind die Erwartungen nachvollziehbar, das Land müsse eine zentralere Rolle auf der Weltbühne spielen. Aber viele Deutsche fühlen sich in einer solchen Rolle unwohl, entweder aus historischen Gründen oder weil sie es nicht sein wollen, die eine untragbare Last schultern müssen - statt ein ruhiges Leben im Wohlstand zu führen.

Doch es könnte sein, dass das nicht länger möglich ist. Eine der unzähligen Weisheiten, die nach dem Brexit-Votum zirkulierten, ist, dass die EU deutscher würde, wenn Großbritannien die Gemeinschaft verlässt. Denn mit dem Abgang eines der größten Mitglieder würde sich die Machtbalance verschieben. Ob das wirklich so kommt, wird man sehen. Aber eines ist schon jetzt klar: Der Brexit erzeugt mehr Deutsche. Auch wenn das viele Leute überrascht.

Copyright The Financial Times Limited 2016

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