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Kommentar Phantomtore sind gut fürs Geschäft

Fehlentscheidungen des Schiedsrichters sind Teil des Fußballspektakels. Zu viel technischer Schnickschnack wäre schlecht für das Produkt Fußball. Von Gert G. Wagner
Gert G. Wagner ist Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Er beschäftigt sich seit Jahren immer wieder mit sportökonomischen Fragen
Gert G. Wagner ist Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Er beschäftigt sich seit Jahren immer wieder mit sportökonomischen Fragen
© Getty Images

Mal angenommen eine Tor-Anzeige-Elektronik hätte bei der Bundesligapartie Hoffenheim gegen Leverkusen bei Stefan Kießlings Kopfball auf Nicht-Tor erkannt. Der Gerechtigkeit wäre Genüge getan. Und das Spiel hätten alle Fußballinteressierten schnell abgehakt - egal wer gewonnen hätte oder ob ein Unentschieden herausgesprungen wäre. Bundesligaalltag. Das Drama entstand erst durch die Fehlentscheidung des Schiedsrichters, der übersehen hat, dass der Ball durch ein Loch im Netz den Weg hinter die Linie fand.

In Frühstückspausen und in Kantinen, an Stammtischen und im Internet wird nun eifrig über das Phantomtor und die Konsequenzen daraus diskutiert. Wertung des Spiels mit 1:1, Spielwiederholung oder sollen – als herrlich unrealistischer Vorschlag des unvergleichlichen Rudi Völler – 22 Minuten des Spiels nachgespielt werden? „Beim Stande von 1:0 von Leverkusen geht es mit einem Abstoß für Hoffenheim weiter“, erklärt Völler. Dies sei die „sauberste Lösung“. Ich behaupte, dass solche Aufreger einen Teil der Faszination Fußball ausmachen. Es mag paradox klingen, aber zu viel Perfektion, zu viel technischer Aufwand machen den Fußball vorhersehbarer und langweiliger. Und Langeweile ist schädlich für das Geschäft. Die Unterhaltungsindustrie ist auf Dramen angewiesen – Fehlentscheidungen gehören nun einmal dazu.

Die Tor-Anzeige-Technik halten viele Fußballfans für sinnvoll, ja sogar überfällig, um mehr Gerechtigkeit beim Fußball herzustellen. Legendär ist das zu Unrecht gegebene Wembley-Tor, das 1966 im Endspiel um die Weltmeisterschaft die bundesdeutsche Mannschaft auf die Verliererstraße brachte. Aber wem hat dieser Fehler wirklich geschadet (mal abgesehen von den deutschen Spielern)? Mit elektronischen Tor-Wächtern werden die Fans weniger Spaß bzw. Aufregung haben – wirklich „gerecht“ wird es im Fußball deshalb nicht zugehen. Ist es beispielsweise gerecht, wenn aufgrund der Torlinientechnik ein Tor gegeben wird, dem vorher ein Foul oder Abseits vorausging?

Von wegen Gerechtigkeit

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Foulspiel im Fußball
© dpa

Oder was hat es mit Gerechtigkeit zu tun, wenn sich ein Spieler im Strafraum fallen lässt und der Schiedsrichter einen Elfmeter gibt. Täuschung und Ungerechtigkeit sind untrennbarere Teile des sportlichen Wettkampfs. Wäre das anders, hätte Stefan Kießling dem Schiedsrichter angezeigt, dass der Ball nicht regulär ins Tor ging und Thomas Helmer hätte vor Jahren auch gesagt, dass er das Tor im Spiel gegen Nürnberg gar nicht getroffen hatte. Vereinsvertreter reden gerne von sportlicher Fairness, aber sie bringen sie ihren Spielern offensichtlich nicht bei, wie Ex-Schiedsrichter Hans-Joachim Osmers beklagt, der seinerzeit Opfer des Fehlschusses von Helmer war.

Wenn man genau hinsieht erkennt man, dass die Grundannahme der Fairness im Fußball systematisch verletzt wird. Denn ist es fair, wenn Spieler mit unterschiedlichen Körpergrößen und Begabungen gegeneinander antreten? In anderen Sportarten wird versucht künstlich Fairness herzustellen. Etwa durch Gewichtsklassen oder Handicaps wie beim Golf. Warum nicht auch im Fußball, wenn man einen gerechten Fußball anstrebt.

Die Anhänger technischer Hilfsmittel argumentieren auch, dass es im Fußball um viel Geld gehe. Das wirtschaftliche Schicksal eines Vereins dürfe nicht von einer zufälligen Fehlentscheidung abhängen. Dieses Argument verkennt aber die Natur des Fußballs vollkommen. Fußball ist deswegen kommerziell so erfolgreich, weil wenig Tore fallen und der Zufall eine große Rolle spielt. Das macht den Fußball spannend. Wenn ein Außenseiter zufällig das 1:0 macht, kann er mit Glück und Geschick knapp gewinnen. Dabei können oft auch (Fehl)entscheidungen des Schiedsrichters mithelfen.

Wirtschaftlicher Erfolg hängt nicht vom Zufall ab

Aber wenn das wirtschaftliche Schicksal eines Vereins von perfekten Schiedsrichterentscheidungen und dem Ausschalten des Zufalls abhängt, dann ist dieser Verein schlecht geführt! Ein gutes Vereinsmanagement, wie zum Beispiel das von Bayern München, sorgt dafür, dass der Club nicht jedes Spiel und jeden Wettbewerb gewinnen muss. Schließlich sind die Einnahmemöglichkeiten der Profivereine so breit gestreut wie nie. Trikotwerbung, Ausrüstungsverträge und Fan-Artikel-Verkauf bringen kalkulierbare Einnahmen jenseits des 1:0. Von den Fernseheinnahmen ganz zu schweigen. Die TV-Erlöse hängen auch von der Spannung in der ganzen Liga ab, wozu Fehler wiederum ihren Beitrag leisten.

Der Ausgang von Meisterschaften und Europa- und Weltmeisterschaften ist inzwischen ohnehin schon enorm gut vorhersehbar. Wenn man sich die Wettquoten oder die „Marktwerte“ der Mannschaften anschaut, kann man in vielen Fällen den Gewinner einer Meisterschaft und eines Turniers vorhersagen. Dass Spanien dreimal hintereinander große Turniere gewonnen hat, war nahezu mathematisch determiniert. Die Trainer werden auch immer besser. Krasse Fehler beim Coaching entstehen nur noch – wie im Fall Jogi Löws bei der EM – durch Selbstüberschätzung.

Für Spaß und Spannung sorgen im modernen Fußball meistens Zufälle – also auch Fehlentscheidungen des Schiedsrichters. Ließen sich alle Fehler technisch vermeiden (durch noch mehr Kameras und noch mehr Schiedsrichter-Helfer an den Linien) dann wären es am Ende nur noch die schlechte Tagesform und vor allem Verletzungen, die zu überraschenden Ergebnissen führen. Am Ende wäre Fußball so langweilig wie die meisten Tennisspiele, bei denen fast immer der Bessere gewinnt. Und Fußball-Journalisten hätten kaum noch was zu schreiben – am Ende wären Nebensächlichkeiten interessanter als das Spiel selbst.

Ein Quäntchen Hoffnung

Perfekte Fußballspiele würden viel weniger Anlass zu heißen Diskussionen am Tag danach geben. Nur mit 3D-Analysen auf dem Fernsehschirm wird der Zirkus seine Faszination nicht aufrechterhalten. Der perfekte Fußball wäre auch nicht mehr so ein gutes Spiegelbild des realen menschlichen Lebens. Zum Leben gehören nun mal Glück und Pech und krasse Unfairness dazu. Und im Sport ist Unfairness viel besser zu ertragen als im wirklichen Leben.

Die neuen Fifa-Regeln lassen allerdings Hoffnung: Denn Schiedsrichter können die Technik nutzen, müssen es aber nicht. Wenn die Torlinien-Technik ein Tor anzeigt, kann der Schiedsrichter es ignorieren. Diese menschliche Ignoranz, die von Schiedsrichter-Diven wahrscheinlich zelebriert werden wird, wird neuen Diskussionsstoff für die Fans liefern. Was für ein Glück.

Mehr von Gert G. Wagner: Politikberatung wird überschätzt und Entscheidungsschwäche macht gute Politk aus und Abenteurer im Bundestag

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