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Kommentar Entscheidungsschwäche macht gute Politik aus

Journalisten und Wissenschaftlern kann es nicht schnell genug gehen. Doch in der Politik ist Eile eher schädlich - gute Kompromisse brauchen Zeit. Von Gert G. Wagner
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Gert G. Wagner ist Universitätsprofessor für Volkswirtschaftslehre, Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), Max Planck Fellow am MPI für Bildungsforschung. Er war 2011 bis 2013 sachverständiges Mitglied der Enquete Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebens qualität“ des Deutschen Bundestages. Laut dem jüngsten FAZ-Ranking der in der Politikberatung einflussreichsten deutschen Ökonomen liegt er auf Platz 10 der Ökonomen, auf die gehört wird.

Vor einem guten Monat habe ich an dieser Stelle über die enorme Risikofreude von Bundestagsabgeordneten geschrieben. Dieser empirische Befund ist überraschend, denn es wird ja seit langem geklagt, dass Politiker nicht mehr entscheidungsfreudig seien und sie Probleme, wie zum Beispiel die Europäische Währungsunion oder die demographische Alterung, in unverantwortlicher Weise auf die lange Bank schieben. Beide Befunde sind allerdings keineswegs ein Widerspruch wie ich im Folgenden zeigen werde. Dass es beide Phänomene gleichzeitig gibt ist vielmehr ein Zeichen dafür, dass unsere Demokratie gut funktioniert.

Der berühmte kleine Mann auf der Straße und ganz besonders der am Stammtisch, aber auch viele Journalisten, einige Schriftsteller und auf jeden Falle viele Wissenschaftler wünschen sich entscheidungsstarke Politiker. Dies gilt besonders für die Zunft der Volkswirte, die alles besser weiß als Politiker, aber ihre volkswirtschaftlichen Weisheiten nicht umsetzen kann oder will. Insbesondere auch viele Ökonomen wünschen sich entscheidungsstarke Politiker. Die dürfen natürlich nicht „irgendwie“ entscheidungsstark sein, sondern sie sollen nur genau das umsetzen, was der Mainstream der Volkswirtschaftslehre ihnen diktiert – zum Beispiel in Beiräten und Sachverständigenkommissionen. Der Briefwechsel zwischen Günther Grass und Willy Brandt macht diesen Widerspruch zwischen besserwisserischen Beratern und klugen Politikern exemplarisch deutlich.

Bis zur Abstimmung im Bundestag ist es häufig ein langer Weg
Bis zur Abstimmung im Bundestag ist es häufig ein langer Weg

Vielen Menschen und Experten bringen dem parlamentarischen Diskussionsbetrieb und dem umständlichen und auf Kompromissfindung angelegten Regierungsbetrieb Verachtung entgegen. Immer wieder wird gelobt wie in Notsituationen starke Politiker das Heft in die Hand genommen haben. Geradezu legendär ist der Einsatz von Helmut Schmidt bei der Sturmflutkatastrophe 1962 in Hamburg, weil er sich mutig über alle Kompetenzen hinweggesetzte – was stets besondere Erwähnung findet - und die Hansestadt damit vor dem Schlimmsten bewahrte. Auch das nahezu unzerstörbare Renommee von Matthias Platzeck rührt aus seinem Einsatz als „Deichgraf“ beim Oder-Hochwasser im Sommer 1997. Dagegen nimmt sich Angela Merkel als zögerliche Mutti aus.

Nichts kann aber falscher sein als das Ideal eines entscheidungsstarken Politikers, der als einziger ganz genau weiß, was richtig ist, und sich über alle Richtlinien und Gesetze hinwegsetzt. Denn Sturmfluten und Hochwasser haben im Grunde nichts mit Politik zu tun, es handelt sich vielmehr um einen technisch-medizinischen Notfalleinsatz. Dafür ist Organisationskunst wichtig – aber darin erschöpft sich Politik nicht. Und auch ein Meteor rast selten auf die Erde zu – wobei in einem solchen Fall wahrscheinlich auch nicht klar wäre, was dagegen am besten zu tun wäre. Ein verheerender Meteor würde wahrscheinlich abwägende, das heißt politische Entscheidungen erfordern. Selbst wenn feststünde, wie man der Menschheit helfen kann, wäre wahrscheinlich zu entscheiden, wer gerettet werden kann und wer nicht.

Politische Probleme zeichnen sich gegenüber Verwaltungshandeln und Notfallhilfe dadurch aus, dass man nicht genau weiß, was die beste Handlungsoption ist. Menschen haben unterschiedliche Zielvorstellungen und obendrein steht meist nicht fest, wie man ein bestimmtes Ziel am besten erreicht. Ein Klassiker in diesem Sinne sind Konjunkturprobleme – bei denen momentan wieder einmal über die Größe des sogenannten „Multiplikators“ debattiert wird. Oder man denke an die aktuelle „Euro-Krise, deren Lösung – in einer historisch nahezu einmaligen Situation – nicht einfach aus volkswirtschaftlichen Theoremen und Erkenntnissen ableitbar ist.

Unproduktives Lamento

Wissenschaftler haben bezüglich ihres politischen Impacts oft völlig unrealistische Erwartungen. Aber nicht alle wissenschaftlichen Ergebnisse sind gut und/oder anwendbar. Wir können als Gesellschaft froh sein, wenn Empfehlungen auf Basis schlechter wissenschaftlicher Analysen nicht umgesetzt werden. Die betroffenen Kollegen klagen natürlich über mangelnden „Umsetzungswillen“ und finden damit durchaus auch ihren Platz in den Medien. Das ist aber ein für die Wissenschaft als Ganzes äußerst unproduktives Lamento.

Es ist im speziellen merkwürdig (und vertiefter Selbstreflektion der Zunft wert), dass ausgerechnet Volkswirte nahezu überall für Wettbewerb eintreten, aber nicht in der Politikberatung. Hier wünschen sich fast alle Volkswirte, dass nur der Mainstream der Volkswirtschaftslehre gelten soll. Wettbewerb von außerhalb, also durch Politikwissenschaftler, Soziologen, Verwaltungswissenschaftler und Juristen, lehnen sie völlig ab. Dieses Nein führt aber nicht zu Beratungserfolgen, sondern eher zu einer gewissen Bedeutungslosigkeit volkswirtschaftlicher Beratung. Denn die unerwünschte Konkurrenz schläft nicht!

Politik ist dazu da, unübersichtliche Probleme zu lösen. Und deswegen muss man froh sein, dass Politik typischerweise nur langsam voranschreitet. Denn in unübersichtlichen Situationen ist häufig nicht unmittelbar deutlich, welche Ziele überhaupt verfolgt werden sollen. Und die besten Instrumente zum Erreichen der Ziele sind erst recht nicht klar.

Bedachtsam statt riskant

Journalisten und Wissenschaftler – genau wie die Stammtische – werfen der Politik typischerweise vor, dass sie zu langsam entscheidet. Dieses und jenes sei überfällig, wird dann moniert. Und wenn bestimmte Dinge nicht gemacht würden, ginge die Welt unter. Mindestens!

Faktisch ist es aber genau umgekehrt: Nicht die Politik ist systematisch zu langsam, sondern Journalismus und Wissenschaft sind systematisch zu hektisch. Das muss auch so sein: Journalisten leben gewissermaßen von der Hektik und Wissenschaftler müssen glauben, dass sie – und nur sie selbst – recht haben. Denn wenn man als Wissenschaftler nicht von seinem Tun überzeugt ist, kann man Wissenschaft nicht durchhalten. Das Wissenschaftssystem insgesamt könnte aber seine beschränkte Bedeutung für die Politik stärker reflektieren und zu Bedacht raten statt zu riskanten Entscheidungen, zu denen Politiker – wie ich hier zeigte – ohnehin neigen.

Zum Glück sind aber funktionierende Demokratien auf Kompromissfindung angelegt. So wird die Risikofreude einzelner Politiker – und damit auch der Journalisten und Wissenschaftler – effektiv ausgebremst. Wenn Dirk Kurbjuweit schreibt „Eine gewisse Mittelmäßigkeit gehört zur Grundausstattung von Demokratien“ kann ich nur sagen: gut so.

Mehr von Gert G. Wagner: Abenteurer im Bundestag

Fotos: © Getty Images; Detlef Güthenke/DIW Berlin

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