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Gastkommentar Panama Papers - der Kapitalismus-Crash

Die Affäre ist ein weiterer Abschnitt auf der Fahrt gegen die Wand, auf die der Kapitalismus zusteuert. Von Jean-Pierre Lehmann
NGO-Protest in Brüssel
NGO-Protest in Brüssel
© dpa
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Jean-Pierre Lehmann ist emeritierter Professor für Internationale Politische Ökonomie an der Business School IMD in Lausanne. Sein Spezialgebiet ist Asien.

Schaut man sich das traurige Bild an, das der Kapitalismus in diesen Tagen abgibt, erinnert mich das an ein Fahrzeug, das mit voller Geschwindigkeit auf eine Wand zufährt. Obwohl Zeugen links und rechts der Straße aus vollem Hals schreien, hält der Fahrer ungerührt seinen Fuß auf dem Gaspedal. Und während wir uns die ganze Szene noch recht ungläubig anschauen, wissen wir genau, dass es gleich einen heftigen Crash geben wird. Die Panama-Affäre ist ein weiterer Wegabschnitt auf der Fahrt gegen die Wand, auf die der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts geradewegs zusteuert.



„Ethischer Kapitalismus“ hat sich als Begriff nie wirklich etablieren können. Einige meinen ja ohnehin, das sei ein Widerspruch in sich. Das liegt nicht so sehr am System, sondern an den Menschen. Willi Schlamm, ein österreichisch-amerikanischer Journalist, hat einmal geschrieben: „Das Problem des Sozialismus ist der Sozialismus. Das Problem des Kapitalismus sind die Kapitalisten.“ Schlamm, der zunächst für die Wiener Kommunisten-Zeitung „Die rote Fahne“ schrieb, um dann interessanterweise komplett die Seiten zu wechseln und beim amerikanischen Anti-Kommunisten-Blatt „American Opinion“ anzuheuern, brachte es damit genau auf den Punkt.

Denn egal, wie viel Idealismus in das Konzept des Sozialismus fließt, am Ende wird es nicht funktionieren. Was auch immer die Theorien sagen, die praktischen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts zeigen: „Das Problem des Sozialismus ist der Sozialismus selbst!“ Erst wenn Unternehmergeist und marktorientiertes Denken dazu kommen – wenn sich also ehemalige sozialistische Länder dem Kapitalismus zuwenden, kann schnelles und solides Wachstum erreicht werden. Beste Beispiele dafür sind China und Vietnam. Der Autor Bill Hayton bezeichnet das in seinem ausgezeichneten Buch „Vietnam: Rising Dragon“ als „marktorientierten Leninismus”.



Es gibt sie, die ethischen Kapitalisten

Das System des Kapitalismus ist im Vergleich zum Sozialismus viel praktikabler und effektiver. Trotzdem neigt es zur Selbstzerstörung. Die Gründe dafür: Missbrauch, Betrug, Lügen und die verschiedensten anderen Formen unethischen Verhaltens der Menschen im System Kapitalismus.

Nicht von allen, natürlich. Denn es gibt sie, die ethischen Kapitalisten! Aber leider sind dazwischen so viele dieser anderen unethischen Spezies, dass es ausreicht, das System zu diskreditieren und an den Rand der Zerstörung zu bringen. Dies ist umso mehr der Fall in turbulenten Zeiten. Oder genauer gesagt, wenn die Zeiten für eine Mehrheit der Menschen im Kapitalismus turbulent sind. Zugleich schwelgt eine Minderheit in aller Öffentlichkeit in Gewinnen, die offenkundig auf seltsame Weise zustande gekommen sind.

Die Panama-Affäre mag viele nicht überraschen – was will man denn sonst von dieser Art von Leuten erwarten? Dennoch schockiert sie vor allem in einer Zeit, in der die Weltwirtschaft nur schwaches beziehungsweise negatives Wachstum aufweist, in der die Arbeitslosigkeit und insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit steigt und ein Gefühl der allgemeinen Verunsicherung herrscht. In Italien haben 39 Prozent der jungen Menschen keinen Job!

Warum haben Kapitalisten keine Hemmungen?

Dennoch sind all diese individuellen Betrüger, die ihr Geld in Steueroasen verschwinden lassen, lange nicht so schlimm wie die Verhaltensmuster mancher Konzerne. Als vor etwa einem Jahr publik wurde, dass die britische Bank HSBC Geld für mexikanische Drogenbarone gewaschen hatte, habe ich die Frage gestellt, was wir daraus lernen. Das Beispiel Volkswagen zeigt uns: offensichtlich nicht viel.

Die gleiche Frage, die angesichts des Falles HSBC – ebenso angesichts all der anderen Firmen mit unethischen Verhaltensmustern – im Raum steht, stellt sich erneut: Ein Volkswagen-Manager verlässt morgens das Haus, küsst seine Familie zum Abschied und tritt dann ein in einen Alltag des Betrugs, in dem die gleiche Person die Zukunft der Menschheit durch gefälschte Luftverschmutzungstests gefährdet? Wie funktioniert so etwas?

Daran schockierend sind nicht nur der Betrug und der Schaden an sich – ganz abgesehen davon, dass uns das sowieso nicht mehr überrascht. Schockierend ist vor allem der Umstand, dass trotz all der Bestätigungen und zusammenhanglosen Entschuldigungen niemand bei Volkswagen öffentlich so etwas wie Scham zeigt. Es wirkt mehr wie: „So ein Mist, jetzt sind sie uns drauf gekommen – beim nächsten Mal haben wir hoffentlich wieder mehr Glück!“

Viel zu oft scheinen Kapitalisten keinerlei Hemmungen zu haben. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was laut Gesetz erlaubt ist, und dem, was ethisch vertretbar ist. Das machen sich viele im Kapitalismus offensichtlich überhaupt nicht bewusst.

Sie lernen nichts aus der Geschichte

Wenn sich der CEO des französischen Autobauers PSA Carlos Tavares 2015 Gehalt und Bonus von mehr als 5 Mio. Euro auszahlen lässt, mag das rechtlich erlaubt sein – ob es ethisch ist, steht auf einem anderen Blatt! Insbesondere wenn wir uns in Erinnerung rufen, in welcher Zeit wir uns befinden und welche massiven Kostenreduzierungen und Entlassungen Tavares seinen hohen Bonus zu verdanken hat. Ob er selbst sich diese Frage je gestellt hat? Oder hatte er nur im Blick, dass der andere „Carlos“ in der französischen Automobilindustrie – Renault-CEO Carlos Ghosn – die beachtliche Summe von rund 15 Mio. Euro kassieren konnte?

Das ist kein Einzelfall, sondern passt genau in das Muster des zeitgenössischen Kapitalisten. Es abzutun mit dem Argument, das sei schließlich immer so gewesen, reicht nicht. Denn gerade weil es in der Vergangenheit schon einmal so war, sollten wir es ändern. Die beiden Autoren Nik Gowing und Chris Landon schreiben zu diesem Thema in ihrem kürzlich erschienenen Buch Thinking the Unthinkable: Manager auf dem Weg nach oben beschäftigten sich viel zu wenig mit den Lehren aus der Geschichte. Dabei ist es ganz einfach: Wenn wir wissen wollen, auf was wir zusteuern, sollten wir zu allererst begreifen, wo wir stehen und woher wir kommen.

Auch wenn das kapitalistische System sich zweifellos als überlegen erwiesen hat – es ist kein Selbstläufer. Ich behaupte nicht, dass sich die Geschichte notwendigerweise wiederholt. Aber, wie Mark Twain angeblich einmal gesagt hat: Die Geschichte „reimt“ sich. Wenn wir aus der Vergangenheit lernten, würden wir ein und dieselben Fehler nicht immer wieder neu machen. Um höhere ethische Standards durchzusetzen und insbesondere dafür zu sorgen, dass es überhaupt ein ethisches Bewusstsein und so etwas wie Schamgefühl gibt, würde es ganz einfach helfen, sich die Geschichte des Kapitalismus im 20. Jahrhundert zu vergegenwärtigen.

Natürlich haben sich die Zeiten geändert. Im digitalen Zeitalter gelangt unethisches Verhalten viel schneller an die Öffentlichkeit. Unternehmensführer haben insofern ein starkes Eigeninteresse, sich ethisch zu verhalten. Also: Bremsen rein und Kurs ändern, bevor wir gegen diese Wand knallen!

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