Horst von Buttlar ist Chefredakteur von Capital. Weitere Kommentare von ihm zum griechischen Drama: Vier kleine große griechische Wahrheiten und Griechenland und die Kunst des Regelbruchs
Mit dem Grexit ist es ja ein wenig wie mit dem Abstieg des HSV. Irgendwie ist immer alles ganz knapp, man ist ziemlich genervt, wie das Spiel läuft – und am Ende kommt die Rettung. Zurück bleibt ein mulmiges Gefühl. Der Unterschied zwischen dem HSV und Griechenland ist allerdings, dass sich der Sportverein jetzt neu aufstellen kann – und dann eine neue Saison losgeht, an deren Anfang alle wieder null Punkte haben.
Griechenland hat diesen riesigen Schuldenberg, die hohe Arbeitslosigkeit, die Wirtschaft schrumpft, es ist übersät und durchtränkt mit einer solchen Hoffnungslosigkeit, dass man sich mitunter fragt, was genau Ende Juni denn da noch gerettet werden soll. Ständig treffen sich Minister, dann wieder Emissäre, dann wieder die Regierungschefs – dagegen scheinen die Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion in den 80er-Jahren ein Kinderspiel gewesen zu sein.
Das aber ist die eigentliche Täuschung an dem, was uns seit Monaten als „Rettung“ verkauft wird. Die „Lösung“ einer Krise oder die „Rettung“ eines Landes wurde in den vergangenen Jahren semantisch umgedeutet: „Gerettet“ und „gelöst“ wird dann, wenn es überhaupt irgendwann noch eine Einigung gibt, die erst mal etwas Luft verschafft.
Retter mit glasigen Augen
Das Problem ist dann nicht mehr das Problem an sich, also die Zukunft dieses völlig perspektivlosen Landes, für das das Wort Rettung zu einer Bedrohung geworden ist. Das Problem ist nur noch der Akt der Rettung, auf den letzten Drücker, in der letzten Minute, am besten Nachts, bevor die Börsen in Japan aufmachen. Eine Rettung, die dann mit glasigen Augen von abgekämpften Gestalten verkündet wird. Eine Milliarde mehr oder weniger, dafür lässt man doch nicht Griechenland fallen – und das europäische Projekt gleich mit. Und plötzlich wird aus der „Rettung“, von der alle wissen, dass sie gar nicht stattfindet, ein Erfolg. Der Ratlose ist der Held, der Machtlose hat Gestaltungsmacht.
Man hat sich ja in den vergangenen Monaten gefragt, worüber die eigentlich noch geredet haben, also die Griechen mit der „Troika“, die wir nur noch „Institutionen“ nennen dürfen. Dazu muss man sich vor Augen führen, dass den Gläubigern plötzlich ganz andere Gestalten gegenüber saßen. Es war in etwa so, als würde man die Föderalismusreform in Deutschland plötzlich mit dem Asta der Uni Frankfurt verhandeln müssen.
Diese neuen Gestalten haben uns durchaus fasziniert, zumindest der smarte Alexis Tsipras. Andere haben uns bald genervt, allen voran Yanis Varoufakis, ein aufgeblasener, eitler, dilettantischer Hasardeur, den man sich immer vorstellt, wie er morgens nackt vor dem Spiegel steht und sich ausmalt, wie er nun Europa umpflügt. Diese Rhetorik ist schon schwer erträglich, die immer an die „Völker Europas“ appelliert, als hätten diese Ansammlung von Kommunisten, Marxisten, Trotzkisten und Faschos irgendein Mandat dafür.
Schmutziger Deal in letzter Minute
Am Ende haben wir bei einem der absurdesten Theater, das je vor Bürgern aufgeführt wurde (und eine Zugabe oder Fortsetzung gibt es vielleicht), nur eines wirklich gelernt: Dass diese sogenannte Rettung, die wir Deutschen maßgeblich mitgeschneidert, angeschoben und exekutiert haben, in keine gute Zukunft führt. Sie ist gescheitert. Das bleibt der Verdienst von Tsipras und den anderen Gestalten, dass sie uns das in ihrer störrischen, verblendeten Art endgültig deutlich gemacht haben.
Was also tun?
Option eins: So wie viele wollten, dass der HSV endlich absteigt, überlässt man die Griechen sich selbst, mit einem letzten Sack Geld, damit keine Hungersnot ausbricht. Das wird kaum stattfinden. Bleibt leider nur die „Rettung“, ein schmutziger Last-Minute-Deal. Für das griechische Volk sollte man es tun, nicht für diese Regierung. Aber lasst sie tanzen und triumphieren, lasst das Volk sie feiern.
Es gibt ja dieses viel zu oft bemühte Zitat von Ludwig Erhard: „Wirtschaft ist zu 50 Prozent Psychologie.“ Vielleicht sollten wir diese einfache Regel unseres Wirtschaftswundervaters einmal beherzigen: Griechenland braucht Hoffnung, und ein Erfolg der neuen Regierung, selbst wenn wir sie inzwischen verachten, würde ein kleines Signal der Hoffnung setzen.
Zugegeben, das Vertrauen, das wir zu Recht zerstört sehen, ist nicht mehr da. Aber muss man nicht dennoch zwischen Regierung und Volk trennen?
Für jeden Deal, egal wie er aussieht, sind dennoch drei Diagnosen wichtig:
1. Die Griechen leiden derzeit vor allem unter ihrer Regierung.
Das Kampf zwischen Gläubigern und den Griechen, der - wenn man den Wahlkampf hinzurechet -, seit einem Jahr andauert, hat das Land zurückgeworfen. Es ist wieder in der Rezession, und somit gibt es keine neuen Jobs. Der Staat, der zumindest angefangen hatte, ein wenig Steuern einzutreiben, ist nicht lebensfähig und kann nur von frischem Geld von außen am Laufen gehalten werden. Solche Szenarien kennen wir eigentlich nur aus Ländern der Dritten Welt. Syriza mag zwar in den Umfragen führen – aber die Menschen geben an den Geldautomaten ein anderes Votum ab: Sie heben ihr restliches Erspartes in Scharen ab, das Kapital flieht aus dem Land. Ist diese Regierung gut für das Land? Follow the money. Trotzdem: Je länger es keinen Deal gibt, desto teurer wird es.
2. Die Schulden Griechenlands sind ein Problem, aber nicht das Wichtigste.
Schulden stehen zunächst einmal auf dem Papier. Wichtig ist im Grunde nur, dass man sie bedienen kann. Damit hat Athen ein Problem, allerdings geht es vor allem um die Tilgungen an den IWF und die EZB. Die absolute Höhe der Schulden (etwa 180 Prozent des BIP) ist für das Land weniger relevant, weil es längst in Quarantäne ist. Bei Schulden kommt es zudem nie nur auf absolute Höhe an, sondern auch auf die Struktur: Wer sind die Gläubiger? Wie sind die Laufzeiten? Ein Großteil der Schulden liegt beim Rettungsfonds EFSF, Zins und Tilgung spielen erst ab 2023 eine Rolle. Im Fall Griechenland ist es zudem wichtig, sich nicht nur die Schuldenquote (also Schuldenstand im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung) anzuschauen, denn diese steigt vor allem, weil die Wirtschaft schrumpft.
Die absolute Summe griechischer Schulden liegt bei 322 Mrd. Euro. 2011 waren es 355 Mrd., 2012 304 Mrd., 2013 dann 316 Mrd. und 2014 318 Mrd. Euro. Was wir also erleben, ist keine endlose Neuverschuldung, Geld versickert nicht in dunklen Kanälen – das Geld wird ständig durchgetauscht. Wie Bluttransfusionen bei einem Patienten, der ohne Ende Blut verliert. Die Gläubiger haben in den vergangenen Jahren alles daran gesetzt, die Zinslast zu senken und die Tilgung zu strecken. Zwei Optionen bleiben: Als Signal an die Griechen streicht man die Schulden auch auf dem Papier – oder die restlichen Euro-Staaten übernehmen die Schulden, die Athen beim IWF und der EZB hat. Damit ist man aus dieser Tilgungsfalle raus. Beide Optionen sind besser als ein weiteres Hilfsprogramm.
3. Wir Deutschen werden in jedem Fall Geld verlieren (und andere Gläubiger auch)
Die Erholung nach Finanzkrisen ist langsam und schmerzhaft. Der Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff hat seit dem Jahr 1800 in 22 Ländern 26 längere Phasen von Überschuldung identifiziert. 20 davon dauerten länger als ein Jahrzehnt, der Durchschnitt ist 23 Jahre. „Der kumulierte Effekt fürs Wachstum ist also riesig“, sagt Rogoff. „Es wäre schön, zurück ins Jahr 1990 zu gehen und zu entscheiden, keine gemeinsame Währung zu haben“, fügt er dann gern hinzu. „Aber ihr seid nun mal verheiratet. Und eine Scheidung wird sehr teuer.“ Rogoff und andere US-Ökonomen plädieren dafür, dass die Deutschen sich lieber heute als morgen eingestehen, dass ein Großteil der Hilfsgelder verloren ist. „Je früher ihr einen großzügigen Deal macht, desto besser ist es“, sagte Rogoff schon 2013.
Wenn man sich diese Phasen der Überschuldung in den vergangenen Jahrhunderten anschaut, hat es immer Schuldenschnitte und Restrukturierungen gegeben. Sie sind eher die Regel, als die Ausnahme. Es heißt immer: Bei einem Schuldenschnitt ist das Geld verloren. Es ist längst verloren. Auch das müssen wir uns endlich eingestehen, selbst wenn die falschen Leute den Schuldenerlass als Triumph verkaufen werden. Das ist nicht relevant. Wir müssen etwas Erhard nach Athen tragen.