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Kolumne Griechenland und die Kunst des Regelbruchs

Dürfen wir in der Eurokrise Regeln missachten? Die Antwort klingt nach Hip Hop. Von Horst von Buttlar
Griechenlands Finanzminister Varoufakis nach der Eurogruppen-Sitzung (Foto: European Union)
Griechenlands Finanzminister Varoufakis nach der Eurogruppen-Sitzung (Foto: European Union)
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Dieser Beitrag ist eine leicht modifizierte Version einer Kolumne, die Horst von Buttlar 2012 für die FTD geschrieben hat. Da sie durch den Streit mit Griechenland neue Aktualität gewonnen hat, veröffentlichen wir sie erneut.

Wissen Sie eigentlich, wie der Schweinebraten entstanden ist? Also, das war so: Jahrtausendelang haben die Menschen nur rohes Fleisch gefressen. Und irgendwann gab es da einen Schweinehirtenjungen, der zündelte gern. Eines Tages brannte er die Hütte ab – und das rohe Fleisch darin wurde gebraten. Wie köstlich es schmeckte! Viel besser als rohes.

Also begann der ganze Stamm von Schweinehirten (und später die Menschheit) die Hütten abzufackeln, um Schweine zu braten. So ging es immer weiter, bis ein weiser Philosoph auf die Idee kam, dass man für die Zubereitung nicht unbedingt die Behausung in Brand stecken muss.

Diese „Abhandlung über Schweinebraten“ stammt nicht von mir, sondern dem britischen Dichter Charles Lamb (1775–1834), und sie wird gern von Ökonomen und Historikern angeführt, die sich mit großen Krisen beschäftigen. Denn Charles Lamb wollte mit seiner Satire erklären, dass alle Regeln von Menschen gemacht werden – und deshalb falsch oder irrsinnig sein können.

Es ist also richtig, das Falsche zu tun?

Um genau diese Frage dreht sich diese nimmermüde Krise, die seit einigen Wochen wieder aufgeflammt und nun vorerst (scheinbar) gelöst ist: Dürfen wir Regeln brechen? Und wenn wir sie brechen – was ist dann mit der Regel? Dürfen wir den Griechen erneut helfen, auch wenn anderes vereinbart wurde? Darf die EZB ihr „QE“ starten und Staatsanleihen kaufen?

Die Kommentare zu diesem schwierigen Fragen klingen deshalb auch widersprüchlich. So wie jener von Josef Joffe, der einmal in der „Zeit“ schrieb: „Für die Einheit Europas soll Angela Merkel die Geldschleusen noch weiter öffnen – auch wenn das falsch ist. “ Es ist also richtig, das Falsche zu tun? Und kann es falsch sein, das Richtige durchzusetzen? Genau darum ging und geht es immer wieder, bei den Hilfspaketen, den Rettungsschirmen, dem Streit innerhalb der EZB, ob sie wieder Staatsanleihen aufkaufen darf – und nun bei der so genannten Rettung der Griechen.

Unser Bauch hat dazu eine klare Haltung: Nein, kein frisches Geld in das „Schwarze Loch“ von Athen! Nein, keine Staatsanleihen von Ländern kaufen, für die Deutsche später gerade stehen müssen! Und dieses Gefühl leitet viele Menschen, denn seien wir ehrlich: Welcher Bauch folgt schon den abstrakten Inflationssteuerungsstrategien einer Notenbank? Doch der Bauch allein reicht nicht für die Lösung solcher Konflikte und Krisen.

die Lösung muss pragmatisch sein, nicht ideologisch

Es ist wichtig zu wissen, dass es nicht das erste Mal ist, dass solche Fragen auftauchen, im Gegenteil. Der MIT-Ökonom Charles Kindleberger hat sich mit der pragmatischen Grenzüberschreitung in Finanzkrisen auseinandergesetzt und dieser sogar einen Essay gewidmet: „Rules vs. Men“, „Regeln gegen Menschen“. Darin vertritt Kindleberger die Auffassung, dass Extremsituationen die Verantwortlichen sogar verpflichten, Regeln, Vorschriften, ja Gesetze zu brechen – die Lösung muss pragmatisch sein, nicht ideologisch.

Er illustriert dies an vielen historischen Beispielen, vor allem anhand der Finanzkrisen Englands im 19. Jahrhundert. Damals gab es „die richtige Mischung von offenkundigen temporären Notlösungen“ bei gleichzeitig „hartem Widerstand dagegen, mit diesen Aktionen Präzedenzfälle zu schaffen, auf die Märkte zählen können“.

Etwa in der Krise von 1825, die als eines der ersten Beispiele für die Notwendigkeit eines „Lender of Last Resort“ gilt. In dem Jahr platzte eine Blase, nach Spekulationen vor allem auf die neuen Märkte in Südamerika. Der Crash zog die britische Wirtschaft in den Abgrund, infizierte den Kontinent, Dutzende Banken gingen Pleite. Die Bank of England, damals noch ein privates Institut, stand vor dem Kollaps – und konnte nur mithilfe der Banque de France gerettet werden.

Die Bank of England hatte zunächst zu zögerlich auf die Krise reagiert, dann aber ging sie recht unkonventionell vor, um das System mit Geld zu versorgen. So tauschte sie Silber gegen Gold mit den Franzosen oder brachte ausrangierte 1-Pfund-Noten, die in einem Tresor gammelten, wieder in Umlauf.

immer geht es um Regeln

„Es gibt Zeiten, in denen dürfen Regeln (...) nicht gebrochen werden; und es gibt andere, in denen sie nicht angewendet werden dürfen, ohne Gefahren heraufzubeschwören“, schrieb der britische Banker Thomas Joplin, einer der Vordenker des Bankwesens, im Rückblick auf die Krise.

Und der Ökonom Walter Bagehot meinte: „Rigide Regeln sind immer gefährlich. Die Kräfte des Feindes ändern sich, also dürfen die der Verteidigung nicht immer die gleichen sein.”

Es war ein beeindruckender intellektueller Kampf dieser Männer, und es ist frappant, dass es im Grunde die gleichen Fragen sind, die uns heute quälen: Stabi-Pakt, Schuldenbremse, No Bailout, verbotene Staatsfinanzierung – immer geht es um Regeln. Und deshalb klingen die Sätze von Joplin und Bagehot so brandaktuell.

1848 wurde mit dem Bank Charter Act der Bank of England das alleinige Recht gegeben, Geldnoten auszugeben. Das Gesetz schrieb der Bank vor, dass das Geld durch Gold oder Staatsanleihen gedeckt sein müsse – sie erhielt aber einen „Letter of Indemnity“ des Schatzkanzlers, dass sie im Falle einer Finanzkrise das Gesetz brechen dürfe. „Damit wurde das Prinzip erhalten, aber die Ausnahme gewährt“, schreibt Kindleberger. Und sie wurde auch in Anspruch genommen, in den Krisen von 1847, 1857 und 1866. Allein die Existenz des „Letter of Indemnity“, so Kindleberger, habe die Märkte beruhigt.

Schaffe Fälle, aber nie Präzedenzfälle

Kritiker von Interventionen bemängeln natürlich genau dies, dass durch Eingriffe etwa der Notenbanken eine „Interventionsspirale“ losgeht und nur die nächste Krise heraufbeschworen wird. Das ist was dran. Allerdings hat die Geschichte gezeigt, dass Untätigkeit auch die falsche Lösung ist. Die Intervention muss das Signal der singulären Nothilfe aussenden – einfach gesagt: Wir retten jetzt, aber verlasst euch nicht drauf. „Der Regelbruch“, schreibt Kindleberger in seinem Buch „Manien, Paniken, Crashs“, „schafft einen Präzedenzfall und eine neue Regel, die befolgt oder gebrochen werden kann, je nachdem, was die Situation verlangt. Unter diesen Umständen ist die Intervention eher eine Kunst als eine Wissenschaft. Die generellen Prinzipien, dass ein Staat immer intervenieren oder niemals intervenieren soll, sind beide falsch.“

Mit anderen Worten: Schaffe Fälle, aber nie Präzedenzfälle. Im Rückblick hätte es demnach richtig sein können, Griechenland in die Insolvenz zu schicken (No-Bailout-Regel befolgen), aber Irland zu helfen (No-Bailout-Regel brechen). Man ahnt, warum ausgerechnet Deutschland sich schwertut, ein Land, in dem das Wort „Notstand“ als Legitimation für Eingriffe die Ohren klingeln lässt.

Und wirklich befriedigend, das räumt auch Kindleberger ein, ist das Fazit von „Rules vs. Men“ nicht – denn man muss darauf vertrauen, dass die Männer und Frauen klug und verantwortungsvoll handeln. Und es ist genau das, was wir derzeit von der griechischen Führung vermisst haben, mit ihrem Verhalten zwischen Spieltheorie und Spielplatz. Sie agierten wie Hasardeure, heillos, überfordert. Und nun müssen wir wieder einmal zuschauen, ob sich das Land an die Regeln, das Vereinbarte hält.

Das Signal an Griechenland, an die Märkte, an alle Akteure, die retten und gerettet werden, sollte also, wenn wir von Kindleberger lernen, ein wenig wie dieses Lied der Hip-Hop-Band „Fettes Brot“ klingen: Intervention? Ja. Nein. Ich meine: Jein!

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