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Kommentar Der Irre, die irre US-Wahl und der Irrtum der Demokraten 

Joe Biden hat es geschafft, er wird Donald Trump ablösen
Joe Biden hat es geschafft, er wird Donald Trump ablösen
© IMAGO / UPI Photo
Nach einem historischen Krimi nimmt Joe Biden Kurs auf das Weiße Haus. Es war eine Abstimmung über zwei Welten – und auch wenn wir jeden County ausleuchten, bleibt vieles unverstanden und im Dunklen

Wer seit Mittwochnacht CNN geschaut hat, muss ein Flimmern auf der Netzhaut haben wie nach 48 Stunden Stroboskop in einem Nachtclub. Ich musste ehrlich gesagt zwischendurch zur Entspannung Fox News schauen, wo seit Donnerstag eifrig mit an dem Märchen der „gestohlenen Wahl“ und des Wahlbetrugs gestrickt wurde.

Das atemlose Zoom-in-Zoom-Out in irgendwelche Countys auf der CNN Magic Map ist eine eigene Kunst- und Stilform geworden. Jeder weiß nun, warum Chatham County in Georgia für die Demokraten seit 2008 so wichtig ist und warum die Viertel in Philadelphia und Atlanta so lange mit dem Auszählen brauchen. Gegen die „Magic Map“ sieht Jörg Schönenborn aus wie ein Lochkartenzähler.

Und das Schöne war ja, wenn man sich nach einigen Stunden wieder in den CNN-Stream einklinkte, fuchtelte der Moderator immer noch oder zum Hundertsten Mal vor Coob County oder Fulton County herum. Eine Endlosschleife und ein Dauerstakkato: Look at the blue, look at the red, here it’s a different story, we need to count the votes. Wir wissen alles, aber eigentlich nichts. Hier eine grandiose Persiflage:

Nun scheint ein Wahlsieg Joe Bidens sicher. Doch trotz aller Daten und Technologie ist das Rätsel bei dieser Wahl nicht kleiner geworden. Was vor vier Jahren noch als Unfall oder Irrtum bezeichnet wurde, ist nun ein Statement: 70 Millionen Menschen haben 2020 Donald Trump gewählt, mehr als Barack Obama 2008 die Stimme gegeben haben – nach vier Jahren voller Skandale, Lügen, Vorwürfen, Entgleisungen, Drohungen.

Historische Zitterpartie

Trump hat die Wahl verloren, deutlich, zugleich denkbar knapp. Es war, auch wenn Joe Biden aller Voraussicht nach deutlich mehr Wählmänner holen wird, kein „landslide victory“, sondern eine historische Zitterpartie, die noch nicht vorbei ist. Hinter uns liegen Tage, in denen die amerikanische Demokratie zwischen Triumph und Tragödie taumelte. Ein Triumph, weil inmitten einer Pandemie diese Wahl nicht wie prophezeit im Chaos endete – eine Tragödie, weil der Amtsinhaber schon früh das Chaos hinaufbeschwor.

Es war eine Abstimmung über zwei Welten. Die Wähler von Joe Biden, der fast 74 Millionen Stimmen erhielt, sahen die Corona-Krise, das katastrophale Krisenmanagement und die Abgründe des Präsidenten, die er seit Mittwoch mehrfach offenbart hat. Die Wähler Trumps sahen den Mann, der eher für den Aufschwung sorgen würde – unter dem drei Jahre lang die Wirtschaft gewachsen ist und Millionen Jobs entstanden sind. Der keine Kriege geführt und Truppen zurückgeholt hat, der hart gegenüber China und Einwanderern ist. Und sie sehen offenbar in ihm immer noch den Mann, der den „Sumpf trockenlegt“.

Es gab eine so ausufernde Berichterstattung im Vorfeld, dass man zwischenzeitlich das Gefühl hatte, das nun nahezu jeder Amerikaner mindestens einmal interviewt wurde, wie er die Welt so sieht – was natürlich nicht zu mehr Erkenntnis geführt hat. Auch wenn alles viel mehr ausgeleuchtet wird, bleibt so vieles im Dunklen.

Die Welt des anderen ist eine legitime Sicht auf die Welt
Horst von Buttlar

Und so scheint es weiterzugehen. Nach dem „Forgotten Man“ im Rostgürtel der USA, müssten wir uns nun dem „Forgotten Latino“ im Sonnenstaat Florida zuwenden. Was bewegt ihn, was treibt ihn an? Und warum wählt er in Gottes Namen Trump, der Latinos doch so oft beleidigt hat, als Drogendealer, Vergewaltiger und Kriminelle? Ach, sie sind konservativ, katholisch und Familie ist ihnen wichtig? Und sie schätzen, dass Trump so hart gegenüber Kuba und Venezuela ist? Hmmm.... Und die „Blue Wall“ im Nordosten, in Michigan und Wisconsin, steht sie nun doch wieder oder bröckelt sie noch?

Die forensischen Wahlanalysen und Spurensuchen nach den vergessenen und gekränkten Seelen dieser Welt – wir kennen das ja auch aus Deutschland, wenn Reporter zu Expeditionsreisen nach Sachsen aufbrechen – haben etwas Hilfloses bekommen. Das Rätseln und Unverständnis und das ewige Diskutieren über dieses Unverständnis, ist selbst in eine Sackgasse geraten. Über die Welt des jeweils anderen wird gegrübelt, weil das „Verstehen“ eher wie ein Zoobesuch abläuft, und – nicht nur in den USA – eine Grundvoraussetzung fehlt: dass die Welt des anderen eine legitime Sicht auf die Welt ist. Und dass irgendwo zwischen diesen Welten die vermeintliche Wahrheit ist, in der man sich die Hände reicht und den Kompromiss schließt.

Wir stochern ja nicht nur vergeblich in der amerikanischen Seele, in den Trümmern und Fetzen des amerikanischen Traums, sondern in der verstörenden Resilienz, die Donald Trump bewiesen hat. Jeder andere Politiker wäre zig Mal zurückgetreten, angeklagt, abgewählt oder anderweitig abgeschossen worden.

Biden wird all seine Kraft nach innen lenken müssen

Die vier Jahre Donald Trump waren ein Stellungs- und Abnutzungskrieg, in dem sich Gräben vertieft und Wunden vergrößert haben.  Klar ist allein eines: Die letzten 72 Stunden haben gezeigt, warum Donald Trump dringend aus dem Weißen Haus ausziehen muss. Seine Verschwörungstheorie ist die vorerst letzte in einer Reihe bestürzender Spektakel und Skandale, die man sonst nur aus Wahlen in Weißrussland, Südamerika oder Afrika kennt.

Die möglichen Szenarien für die kommenden vier Jahre sind nun breit und diffus: Einigkeit gibt es allein in der Außenpolitik: ein Comeback auf der internationalen Bühne (WHO, Pariser Abkommen, Nato), dennoch bleibt der Fokus auf China und den pazifischen Raum. Der Kampf um Hegemonie wird auch unter Demokraten weitergeführt. Vielleicht anders im Stil, aber hart in der Sache. Das scheint wichtiger und existenzieller als die Belebung des transatlantischen Bündnisses.

Vor allem aber wird Joe Biden all seine Kraft nach innen lenken müssen. Barack Obama erbte den Schlamassel einer historischen Finanzkrise, Biden eine Pandemie, die außer Kontrolle ist. Aus „America First“ wird „Buy American“, ebenso entschlossen, vermutlich verhandlungsbereiter und rationaler und nicht immer volle Attacke auf die Verbündeten. Die Märkte spekulieren auf einen Stimulus, der kleiner ausfällt, wenn Republikaner den Senat dominieren – und auch Steuererhöhungen dürften dann schwieriger werden.

Und dann? Es gibt die These von Joe Biden als Adenauer-Figur, der das Land eint und versöhnt, zurückführt in eine gute alte Zeit, die verklärt wird und versunken scheint. Und es gibt das Szenario eines „Lame Duck“-Präsidenten, der mit einem unversöhnlichen, republikanisch dominierten Senat sein Programm kaum durchsetzen kann. Die Fortsetzung der Spaltung, nur ohne Clown im Weißen Haus.

Und Donald Trump? Auch wenn in diesen Stunden vor allem seine Familie und Fox News den Kampf ihres Lebens fechten, könnte Trump die Partei über Jahre dominieren und mit Hilfe von Twitter aus Florida eine Mischung zwischen Oppositionsführer und Schattenregierung spielen – manche Beobachter halten sogar eine erneute Kandidatur 2024 für möglich.

Die Corona-Krise, so ist vor allem die Sichtweise hier in Europa, hat alle Schwächen des amerikanischen Staates offengelegt. Ebenso die „Mängel des US-Kapitalismus“, wie selbst die „Financial Times“ bemerkte: Ein schwacher Sozialstaat, eine schlechte Ausbildung und die hohe Ungleichheit in der amerikanischen Gesellschaft.

Was wir oft unterschätzen, sind die Selbstheilungskräfte und die Dynamik, mit der die USA sich aus tiefen Krisen erheben und wieder wachsen. Immerhin: Die Amerikaner können darauf bauen, dass das Land einen Präsidenten haben wird, der die Ernsthaftigkeit und den Willen mitbringt – und vermutlich einen Stab, der nicht am laufenden Band gefeuert wird –, all diese Wunden zu heilen. Es ist eine Aufgabe, die Joe Biden allein nicht wird vollenden können.

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