Es ist ja fast wie Weihnachten: Alle Jahre wieder schaut die Öffentlichkeit mehr oder weniger überrascht auf die nächste Bescherung in Form eines Fehlverhaltens an der Spitze einer Organisation. Diesmal trifft es eine Anstalt des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Patricia Schlesinger, die Chefin des rbb, soll sich Diverses zu Schulden kommen lassen haben. Es stehen eine ganze Reihe von Verdächtigungen im Raum.
Damit setzt sie eine unrühmliche Tradition fort.
Manipulation, Boni, Spitzeleien
Denken Sie an den Betrugsskandal beim ADAC mit der manipulierten Vergabe der „Gelben Engel“ oder an Thomas Middelhoff, der als Chef des Handelskonzerns Arcandor kurz vor der Pleite noch mal eben 2,3 Mio. Euro Bonus kassierte, oder an die Chefs der Telekom, die unliebsame Zeitgenossen bespitzelten. Oder an die Menge krimineller Energie, die sich bei Volkswagen entladen hat: von Luxusreisen und Besuchen im Puff für Betriebsräte über Schmiergeldzahlungen bei MAN bis zum Dieselbetrug. Die Liste der Skandale lässt sich fast beliebig verlängern.
Ich kann durchaus nachvollziehen, dass diese Vorfälle das Vertrauen vieler Menschen in „die Manager“ oder auch in „die Wirtschaft“ ganz allgemein erodieren.
„Die da oben“
Entsprechend fördern sie natürlich die Ansicht, dass „die da oben“ im Kern – anders als alle anderen Menschen – nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht seien.
Diese Schlussfolgerung halte ich für falsch! Meiner Beobachtung nach sind die meisten Top-Manager im Grunde ehrliche Menschen und handeln verantwortungsvoll. Und zumindest die, die ich kenne, sind keineswegs charakterlich verdorben. Und doch kommt es in schöner Regelmäßigkeit zu solchen Skandalen. Wie kann das sein?
Aus allen Winkeln
Jeder dieser Fälle lässt sich ja aus ganz verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Auch beim Fall Schlesinger ist die genannte charakterliche Betrachtungsweise nur eine unter vielen. Da ich die Dame nicht persönlich kenne, kann ich dazu auch keinerlei Aussage machen. Das überlasse ich lieber all jenen, die einen ausgeprägteren moralischen Kompass für sich beanspruchen.
Auch auf die wieder aufgeflammte Diskussion über Sinnhaftigkeit, Ausprägung und Formate eines Bürger-finanzierten Rundfunks will ich hier nicht näher eingehen, obwohl ich mich schon zum Beispiel frage: Wie kommt es, dass eine Organisation, die sich explizit nicht an ihrer Leistung im Vergleich zu Wettbewerbern messen lassen soll, ihre Manager genau für diese „Leistung“ mit Bonuszahlungen honorieren will?
An dem juristischen Blickwinkel sind in der Causa Schlesinger wohl sowieso bereits viele dran. Allein der rbb soll 16 externe Anwälte engagiert haben. Falls es sich also wirklich um Betrug oder Vorteilsannahme handeln sollte, wird – wie das in der Juristerei üblich und richtig ist – ein individuell Schuldiger gefunden und bestraft werden. Das ist sicher gut so.
Auch aus dem Management-Blickwinkel steht die individuelle Verfehlung im Fokus. Sie gibt Anlass, das eigene Instrumentarium nachzuschärfen, um Wiederholungen zu unterbinden: durch strengere Regeln, durch strengere Kontrolle – und durch noch mehr Anstrengungen, die Menschen mit dem „richtigen Mindset“ einzustellen und zu befördern.
Nur für einen Blickwinkel scheinen die Beteiligten der öffentlichen Debatte sich nicht zu erwärmen. Das halte ich für fahrlässig, denn er ist von großer Relevanz. Er wirft noch einmal ein ganz anderes Licht auf die Lehren, die Unternehmen und andere Organisationen aus solchen Betrugsfällen ziehen können – die ansonsten im toten Winkel verschwinden. Dieser Blickwinkel ist der organisatorische.
Der tote Winkel
Mit dem organisatorischen Blick betrachten Sie das „Milieu“ der Organisation und fragen sich, welche Rahmenbedingungen vorliegen, die das unerwünschte Verhalten gefördert haben. Das eröffnet Ihnen ganz andere Möglichkeiten, um in Zukunft die Wahrscheinlichkeit für eine solche Verfehlung zu senken – unabhängig von den handelnden Personen.
Lassen Sie mich das an einem kleinen Beispiel im Fall Schlesinger verdeutlichen: Es wird gemunkelt, dass es für den Umbau ihres Büros eine genehmigungsfreie Budgetgrenze gab und dass sie die Rechnungen in mehrere Chargen hat aufteilen lassen, um unter dieser Grenze zu bleiben. Ein Fehlverhalten? Ja, natürlich. Ein Ausnahme? Ganz und gar nicht. Es ist vielmehr ein recht normales Prozedere, wie es immer wieder in tausend anderen Unternehmen passiert. Doch was würde sich ändern, wenn Sie – ganz im Management-Style – diese Budgetgrenze absenken oder die Kontrolle verschärfen? Nichts, denn die ließe sich genauso unterlaufen. Im Gegenteil, denn Sie bestärken das Milieu noch.
Das ist das Paradoxe: Gerade die Summe der Regulierung fördert ein Milieu, in dem Betrug wahrscheinlicher wird. Das führt irgendwann zum Kollaps. Und solange sich am Milieu nichts ändert, wird es immer wieder dazu kommen. Betrugsanfällige Systeme werden immer wieder Betrüger hervorbringen.
Oder nochmal anders: Der hochregulierte Handlungsrahmen, der in Großorganisationen – und nicht nur dort – wirkt, verführt Menschen zu unerwünschtem Handeln und macht es opportun. Vereinzelt kriminelle Chefs sind nur ein Symptom unter vielen.
Es gibt auch ein sehr eindeutiges Indiz für diese These.
Nicht nur ein Menschenschlag
Die Betrüger entstammen nämlich nicht einfach einem besonders raffgierigen Menschenschlag. Sie rekrutieren sich aus allen Altersklassen und allen Geschlechtern, unabhängig von Herkunft und Karriereweg. Solche Fälle lassen sich auch in allen Kulturkreisen und in allen Arten von Organisationen beobachten.
Ich möchte nur erinnern an den so genannten Protz-Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst. Dessen Geschichte weist erstaunliche Parallelen zu der von Frau Schlesinger auf – mit dem einzigen Unterschied, dass beim einen die freistehende Badewanne und bei der anderen der Massagesessel und die üppigen privaten Bewirtungen im Mittelpunkt des medialen Interesses stehen.
Augen auf bei Massagesesseln
Betrachten Sie die lange Liste der Skandale aus diesem Blickwinkel, wird klar: Die Täter tragen zwar persönliche Verantwortung, aber das Problem ist nicht erledigt, indem die Organisationen den Übeltäter entlassen, ob der nun Frau Schlesinger, Herr Tebartz-van Elst, Frau Müller oder Herr Maier heißt.
Das heißt nicht, dass ich für einen Freispruch der Akteure plädiere, die sich etwas zu Schulden haben kommen lassen. Ganz und gar nicht. Doch wenn ich die Wahrscheinlichkeit solcher Verfehlungen für die Zukunft mindern möchte, muss mein Blick über das Individuum hinaus gehen: auf den institutionellen Rahmen, der die Verfehlungen gefördert hat. Das gilt vor allem dann, wenn so etwas nicht nur einmal vorkommt, sondern in ähnlicher Weise immer wieder.
Ich jedenfalls kann Ihnen garantieren: Falls ich morgen über einen Massagesessel in meinem Unternehmen stolpere, der angeblich „plötzlich einfach da war“, weiß ich, wo ich (auch) hinschauen werde. Und Sie?