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Israel „Dieser Schock wird eine große Narbe hinterlassen“

Erez Schachar auf einer Demonstration in Tel Aviv im Frühjahr
Erez Schachar auf einer Demonstration in Tel Aviv im Frühjahr
© Jonas Opperskalski / laif
Der israelische Unternehmer und Regierungskritiker Erez Schachar spricht über den Angriff der Hamas – und dessen Auswirkungen auf die israelische Gesellschaft

Erez Schachar ist Mitgründer und Partner der Wagniskapitalfirma Qumra Capital in Tel Aviv. In den vergangenen Monaten zählte er in der israelischen High-Tech-Industrie zu den führenden Stimmen im Protest gegen die geplante Justizreform der Regierung.

Wie geht es Ihnen, Herr Schachar?
EREZ SCHACHAR: Mir geht es gut, danke. Meine Frau Netta und ich sind militärische Konflikte gewohnt. Aber ich habe drei kleine Kinder zu Hause, drei, sieben und zwölf Jahre alt, die nehmen die Ereignisse natürlich dramatischer wahr als wir.  

In Tel Aviv gibt es, wie in vielen anderen Städten Israels, in diesen Tagen immer wieder Raketenalarm. Wie erklären sie Ihren Kindern die Situation?
Kinder, die in Israel aufwachsen, brauchen in so einer Lage nicht viele Erklärungen. Jedes Kind in Israel ist sich bewusst, dass es Krieg geben kann, die kennen den Raketenalarm schon und wissen, dass man dann in den Schutzraum gehen muss. Dieses Mal merken meine Kinder allerdings, dass etwas anders ist, dass es eine andere Intensität gibt, weil das ja jetzt schon ein paar Tage so geht. Insgesamt sind sie aber ziemlich resilient.  

Wie sehen derzeit Ihre Tage aus?
Meine Frau Netta und ich waren sehr aktiv in der Protestbewegung gegen den geplanten Umbau der Justiz. Diese Energie leiten wir jetzt um in soziales Engagement. Ich bin gerade am Hafen (von Tel Aviv, wo Spenden für Familien gesammelt werden, die aus Ortschaften im Süden des Landes evakuiert wurden, Anm. d. Red.), ich bin im Moment die ganze Zeit hier. Die verschiedenen Organisationen der Protestbewegung leisten hier eine gemeinsame Anstrengung, um den Betroffenen zu helfen, Hunderte Freiwillige sind hier aktiv, das ist wirklich inspirierend. Die Leute bringen Essen, Ausrüstung, Möbel, alles, was gebraucht wird. Außerdem treiben wir Spenden ein. Und eine unserer Portfolio-Firmen, Talkspace, die eine Plattform für Online-Therapie entwickelt hat, vermittelt jetzt kostenlose psychologische Betreuung auf Hebräisch.

Die furchtbaren Fotos und Videos von Ermordeten, von alten Menschen, Frauen und kleinen Kindern, die gewaltsam abgeführt und nach Gaza verschleppt werden, gehen in diesen Tagen um die Welt. Was macht es mit Ihnen, diese Bilder zu sehen?
Man muss verstehen: Tausend Getötete in Israel, das ist gemessen an der Bevölkerung so viel wie 40.000 Menschen in den USA. Das sind unfassbare Zahlen. In drei Stunden werde ich auf die Beerdigung des Sohnes enger Freunde gehen. Die Geschäftspartnerin meiner Frau hat ihren Bruder verloren. Wir sprechen hier nicht von irgendeinem schockierenden Ereignis, das man aus der Ferne beobachtet. Das trifft hier jeden von uns so nah, wie es nur geht. Dieser Schock wird eine große Narbe im israelischen Ethos hinterlassen, noch über Generationen hinweg.

Was erwarten Sie von dem Krieg gegen die Hamas, den Israel nun führt?
Nach einem solchen Anschlag steht fest, dass wir nicht zu dieser Routine zurückkehren können, in der es permanent Spannung zwischen Israel und der Hamas gibt, die hin und wieder in Gewalt eskaliert. Es muss eine Entscheidung getroffen werden. Wie die aussieht, ist schwer zu sagen, aber ich glaube, wir müssen sichergehen, dass eine Organisation wie die Hamas nicht mehr die militärischen Kapazitäten hat, die sie heute besitzt. Das ist das Minimalziel, das wir erreichen müssen, und ich habe keinen Zweifel daran, dass Israel das leisten kann. Es wird ein hoher Preis dafür gezahlt werden, auf unserer Seite und auf der Seite der Palästinenser. Das wird kein einfacher Krieg und auch keiner, der nach ein paar Tagen vorbei ist.

Viele fürchten, dass die Hisbollah-Miliz im Libanon eine zweite Front gegen Israel eröffnen könnte. Sie auch?
Ja, diese Gefahr besteht meiner Meinung nach. Man darf nicht vergessen, dass sowohl die Hamas als auch Hisbollah iranische Stellvertreter sind und vom Iran massiv unterstützt werden: finanziell, militärisch, mit Training. Aber Israel ist gut darin, die gesellschaftliche Solidarität und die nötige Unterstützung aufzubringen für einen Kampf, der leider nötig ist.

In der Hoffnung, dass diese Frage in einer solchen Lage für Sie nicht zynisch klingt: Welche wirtschaftlichen Auswirkungen erwarten Sie?
Das ist eine legitime Frage und meiner Meinung nach auch superrelevant. Denn Israels Stärke, auch seine militärische, speist sich zu großen Teilen aus seiner wirtschaftlichen Kraft. Andernfalls könnte das Land sich in einer Region wie dieser nicht verteidigen. Langfristig sehe ich keinen Grund zur Sorge für die Wirtschaft. In den kommenden Wochen oder Monaten – wie lange auch immer Israel sich in einem aktiven Kampf befinden wird – wird es hier sicherlich eine gewisse Stagnation geben, es wird schwierig sein, größere Investitionen aus dem Ausland anzulocken. Langfristig sehe ich aber kein wesentliches Risiko. Ich glaube im Gegenteil, dass Israel aus dieser Lage siegreich hervorgehen und dann auch eine größere internationale Legitimität genießen wird als vorher.

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