Berlin-Mitte, Torstraße: „Hermann’s“ steht in grünen Buchstaben über der Tür. Drinnen ein Restaurant mit viel Licht und Raum, Holztische, Sessel, eine weiße Theke. „Wasser Kefir – probiotisch, lecker, gesund“ steht auf einem Schild am Tresen, in einem Regal Bücher wie „Green Kitchen at Home“ und „Ocean Greens“. An der Seite ist ein Shop, wo es Hanfnüsse und Öko-Emmer-Vollkornmehl zu kaufen gibt. Verena Bahlsen kommt in den Raum, schwungvoll, offen, sie entfaltet sofort eine Präsenz, die für eine 25-Jährige beeindruckend ist.
Capital: Frau Bahlsen, Sie haben 2017 in Berlin das Restaurant Hermann’s eröffnet, der Name erinnert an Ihren Urgroßvater, der 1889 Bahlsen gegründet hat. Von hier aus wollen Sie die Lebensmittelbranche aufmischen. Wie kamen Sie darauf?
VERENA BAHLSEN: Als ich 20 war, war ich in London am King’s College und ehrlich gesagt total gelangweilt. Ich hatte zuvor nichts mit dem Unternehmen meiner Familie zu tun, mein Vater hat das von uns ferngehalten – weil es bei ihm anders war und es dadurch viele Konflikte gab. Als wir Kinder Gesellschafter wurden, hat sich das geändert. In London habe ich dann meine Mitgründerin Laura Jaspers kennengelernt. Sie war zuvor Assistentin meines Vater und dann eine Art Ziehkind und arbeitete in Großbritannien im Marketing.
Was haben Sie gemacht?
Wir sind eines Tages durch Supermärkte gelaufen, haben Produkte angeschaut und diskutiert, dass ein völliger neuer Markt für Lebensmittel entsteht. Und wir merkten, dass wir das nicht mit dem zusammenbringen können, was wir von Bahlsen in Hannover kennen. Das sind zwei Welten und Systeme. Das war der Beginn unserer Freundschaft.
Das Unternehmen Ihrer Familie ist Teil des alten Systems, Bahlsen prägt seit 125 Jahren den Markt für Süßgebäck, hat 5000 Produkte auf den Markt gebracht …
Gerade diese Ambivalenz finde ich reizvoll. Mein Urgroßvater hat die Industrialisierung in der Lebensmittelindustrie maßgeblich geformt. Was er und seine Nachkommen erreicht haben, ist wertvoll. Der Leibniz-Keks bleibt großartig. Unsere Generation aber hat eine neue Aufgabe: Wir müssen uns ändern und sind als Industrie dafür nicht gewappnet. Ich sitze noch zu oft in Räumen und Meetings, in denen alle wie bisher reden und planen, und ich denke dann immer an diesen Cartoon mit dem Hund, der in dem brennenden Haus sitzt und sagt: „This is fine!“ – So verhalten wir uns gerade.
Werden diese Veränderungen in der Branche nicht diskutiert?
Nicht genug. Aber nicht, weil die zu blöd dafür sind. Die Industrie lebt momentan noch in einer anderen Welt. Alle Innovationen kommen von außen, von Forschern, Restaurants, Bloggern. Dieser Markt ist für die Industrie völlig unsichtbar.
Und deshalb kommen Sie auch von außen, mit dem Hermann’s. Was machen Sie genau hier?
Wir bauen ein Vehikel, das in dem neuen Markt zu Hause ist, Brücken zur Industrie schlägt und trotzdem Geld verdient. Dies Restaurant ist nur der Ausgangspunkt. Wir bauen ein Ökosystem: Mit einem Restaurant, einer Plattform und Community, die den Handel, Produzenten und alle, die an neuen Lebensmitteln arbeiten oder darüber schreiben und forschen, zusammenbringen will, den Austausch fördert und in einer Datenbank erfasst – und wir wollen Unternehmen beraten.
Es geht also über Bahlsen hinaus?
Ja, wir beraten auch andere traditionelle Marken. Bisher suchen alle noch, keiner hat einen Fahrplan.
Müssen die Veränderungen von unten oder von oben kommen?
Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, Junior Brandmanager zu sein. Ich wurde im Alter von 20 Jahren Gesellschafter, damals haben wir Geschwister und mein Vater mithilfe von Coaches an mehreren Wochenenden daran gearbeitet, wie wir Kinder uns bei Bahlsen einbringen. Und ich habe einen Vater, der bei jeder bescheuerten Idee, die ich hatte, gesagt hat: „Lass uns darüber reden.“ Er nimmt mich ernst.
Aber für ihn muss doch Ihr Denken wie eine Rebellion klingen.
Er begleitet das mit Wohlwollen, auch wenn wir viel miteinander ringen. Ich war vor fünf Jahren noch viel radikaler. Ich wollte mich freischwimmen und meine Identität finden. Einmal saß ich mit meinem Vater in Hannover beim Italiener, und da hat er gesagt: „Verena, egal was passiert, wir müssen genug miteinander reden!“ Ich finde, Generationen müssen immer ein Stück gemeinsam gehen, einfach ein Unternehmen rüberschieben und nehmen reicht nicht.
Gibt es Leute, die sagen, dass das Hermann’s eine Spielerei ist?
Das Restaurant allein wird nie viel Geld verdienen. Aber zusammen mit dem Beratungsgeschäft schon. Derzeit kommt das Budget noch aus dem Konzern, klar. Aber wir müssen uns absolut selber tragen. Wir sind gerade mal anderthalb Jahre am Markt und haben viele Fehler gemacht. Ich bin aber stolz, was wir aufgebaut haben, hier arbeiten 25 Leute aus zehn Nationen. Nicht weil wir Berliner Hipster sein wollen, sondern weil wir unterschiedliche Perspektiven aufs Essen bekommen. Wir haben inzwischen Zugang zu vielen Food-Start-ups, sei es aus dem Silicon Valley oder Schanghai.

Wenn ich jetzt etwa ein Chemiker in Polen bin, und ich forsche gerade an einem Müsliriegel aus Insektenmehl. Was bringt mir dann das Hermann’s?
Okay, Sie sitzen also in Ihrer Küche und forschen auf eine Art, wie es Bahlsen nie tun würde. Sie haben aber keinen Bezug zur Industrie, kein Netzwerk, keine Chance, jemals ein Produkt auf den Markt zu bringen. Wir können Ihnen Zugänge verschaffen – wir sagen: Sollen wir Ihren Riegel nicht mal bei Unternehmen XY vorstellen? Wir geben den kleinen Innovatoren eine Stimme. Und auf unserer Speisekarte können wir alle Trends an den Early Adoptern ausprobieren und bei einem Abendessen Ihren Insektenmehlriegel servieren.
Und warum geht das nicht in der Bahlsen-Zentrale in Hannover?
Das habe ich 2015 zuerst versucht. Und das war ehrlich gesagt grauenvoll. Wir passten mit unserer Arbeit und unseren Zielen da nicht rein. Wir wollten uns bewusst abkapseln und abnabeln. Jetzt sind wir an einem Punkt, wo Kollegen aus Hannover auf uns zugehen und hier sogar Events machen. Jetzt sprechen wir zum ersten Mal mit der Produktentwicklung über neue Rohstoffe.
Alle reden über die Umwälzung der Ernährung, es gibt Start-ups, nachhaltige Produkte, Verfahren wie Vertical Farming. Wie weit ist das tatsächlich eine Massenbewegung? Oder ist das nicht ein elitäres Thema der westlichen Welt?
Derzeit ist es noch ein eher elitäres Thema, oft ist es auch noch ein großes „Blubb“. Aber auf lange Sicht betrifft es alle: Das Thema Protein-Alternativen wird ein Thema für den Massenmarkt.
Gilt das auch für Entwicklungsländer? Denen geht es ja nicht darum, Algen zu essen, sondern überhaupt etwas zu essen.
Unbedingt. Weil wir derzeit so konsumieren, haben wir auf lange Sicht nicht genug Lebensmittel, um die Menschheit zu ernähren. Die westliche und die Dritte Welt sind zwei Seiten derselben Medaille. Wir müssen unser Nahrungssystem als Ganzes hinterfragen. Es geht nicht darum, dass es jetzt in Berlin-Mitte cool ist, vegan zu essen, sondern dass es global gesehen ineffizient ist, so viel Fleisch zu konsumieren. Wir suchen hier nicht nach neuen Rezepten für Chiasamen-Pudding, sondern nach neuen Mehlprodukten und Wegen in der Supply Chain.
Woher wissen Sie, dass Sie auf den richtigen Trend aufspringen?
Ich springe nicht auf einen Trend, sondern investiere, weil ich denke, dass der Trend für neue und nachhaltige Ernährung erst richtig losgeht. Wir machen hier nicht Kram, der ein wenig trendy ist.
Und Sie vertrauen darauf, dass nicht nur Berlin-Mitte, sondern auch eine Milliarde Chinesen bei dem Trend mitmacht?
Vor allem die Chinesen! Was die gerade etwa beim Vertical Farming schaffen, ist crazy. Warum? Weil die den Druck direkt vor der Haustür haben. Nicht Ethik, sondern Effizienz treibt sie an. Die werden uns auch mal beim Thema Nachhaltigkeit abhängen. Mein großes Idol, der Danone-Chef Emmanuel Faber, hat einmal gesagt: Nachhaltigkeit ist die neue Effizienz. Das würde ich sofort unterschreiben.
In der Autoindustrie ist der Treiber für neue Mobilität auch der Staat, der etwa Quoten für E-Autos vorschreibt. Wird das in Ihrer Branche auch so sein?
Viele glauben, dass die Regulierung ein Treiber sein wird. Schon jetzt gibt es ja Vorgaben für Zucker. Ich bin Kapitalistin und würde sagen: Die Nachfrage sorgt für neue Angebote. Ich setze auf die Sinn-Wirtschaft. Ich glaube, jetzt ist die spannendste Zeit, um mit Weltverbessern Geld zu verdienen.
Wie weit ist es von der Regulierung bis zum „Veggie Day“?
Wir leben zu sehr in einem „Frei von“-Markt. Frei von Zucker, frei von Gluten, frei von Palmfett. Wir müssen hin zu einem „Mehr von“-Markt. Mehr von Produkten, die diese ganzen alten Rohstoffe nicht mehr haben. Das ist so ein geiler Markt, aber wir reden die ganze Zeit darüber, was wir streichen können. In den USA geht die Supermarktkette Whole Foods diesen Weg.

Sind die USA Treiber des Trends?
Ja. Wir reden über Veränderung, die investieren in Veränderung.
Aber Start-ups wie Impossible Foods, die am fleischlosen Burger forschen, sind doch auch dort eine Nische, die Masse stopft sich weiter mit Burgern und Coke voll.
Diese Ambivalenz müssen wir aushalten. Ja, Milch aus Erbsenisolat ist eine Nische, und trotzdem sind das alles Indikatoren dafür, wo einmal der Massenmarkt sein könnte.
Wer ist denn in Deutschland der Treiber?
Es gibt Start-ups, die ich spannend finde, zum Beispiel Farmers Cut aus Hamburg, die daran arbeiten, wie man Indoor und Vertical Farming skalieren kann. In Berlin forschen Start-ups an Zuckeralternativen. Haben Sie schon einmal von Luo Han Guo gehört?
Nein.
Das ist eine chinesische Art von Melone, die, wenn sie getrocknet wird, 300-mal so süß wie Zucker ist, aber keinen Einfluss auf den Insulinspiegel hat.
Wurde die gerade entdeckt?
Sie war vergessen, wie so vieles. Es gibt zum Beispiel auch die Jackfrucht oder Jakobsfrucht. Auch die ist in Europa vergessen worden, in Asien wächst sie überall und hat die gleiche Faserlänge und Struktur wie Fleisch. Man kann sie kochen und würzen. Seit Januar können Sie bei uns „Jackfruit Burger“ essen.
Mich interessiert noch ein anderer Widerspruch: zum Beispiel die Avocado. Sehr populär im Westen, gerade in der Food-Szene. Der Boom aber sorgt für Verwerfungen in Südamerika, weil die Frucht viel Wasser verbraucht.
Das gleiche Problem haben wir mit Quinoa, das gilt als gesund und vor allem glutenfrei. Die Pflanze wurde seit Tausenden von Jahren in Ecuador angebaut. Dort aber essen die Menschen sie nicht mehr, weil sie so teuer geworden ist – die essen nun die Nestlé-Produkte.
Und wie löst man solche Widersprüche auf?
Wir müssen noch besser prüfen, was wir wegwerfen. Aus Abfall kann man viele Rohstoffe gewinnen. In der Tofu-Produktion etwa wird ein Teil der Sojabohne benutzt – den Rest könnte man eigentlich trocknen, mahlen und daraus Mehl machen. Das heißt Okara, das essen die Japaner seit Jahrhunderten. Das gibt es auch hier im Hermann’s.
Kann man daraus auch einen Leibniz-Keks machen?
Klar! Das mache ich aber erst mal nicht. Meine Aufgabe ist in Berlin.
Haben Sie das in der Bahlsen-Zentrale einmal angeregt?
Nein. Ich habe natürlich 50 Ideen, wie ich den nächsten Leibniz-Keks bauen werde, aber das ist für mich kein Schnellschuss. Ich lerne gerade unglaublich viel, wir entwickeln hier, für mich ist das kein Rennen, wer als Erster in diesem Markt dabei ist.
Wann kam bei Ihnen diese Einstellung zu Lebensmitteln?
Ich weiß nur, dass ich mit 20 Jahren gesagt habe: Der konventionelle Markt ist scheiße, alles muss sich ändern! Ich denke heute anders, und zu Weihnachten will ich auch großartige Weihnachtskekse essen. Aber manchmal möchte ich eben einen Keks essen, der mich fit hält und nicht nur meinen Insulinspiegel pusht! Für beides gibt es eine Rolle. Und meine Vision für Bahlsen ist, dass wir langfristig beide Felder glaubhaft und gut bestellen können.
Sie haben drei Geschwister. Wie denken die darüber?
Meine Schwester ist Fotografin. Sie sagt immer, sie sei die Einzige, die es geschafft hat zu rebellieren. Meine beiden Brüder arbeiten in der Wirtschaft – sie können sich vorstellen, auch operativ bei Bahlsen etwas zu machen. Die Entscheidung der Nachfolge steht bei uns aber noch nicht an. Wir müssen erst mal extern Erfahrung sammeln.
Aber Ihr Vater geht auf die 70 zu …
Es gibt jetzt schon ein externes Management. Mein Vater hat sich 2018 aus der operativen Führung in den Verwaltungsrat zurückgezogen.

Bahlsen hat rund 2800 Mitarbeiter und setzt rund 560 Mio. Euro um – das wird man doch nicht so einfach auf den Kopf stellen?
Das geht nur Schritt für Schritt. Es gibt so viele Chancen, die wir noch nicht für das Kerngeschäft genutzt haben, etwa in China oder den USA. Es gibt so viele Märkte, auf denen wir noch gar nicht sind oder wo wir seit Jahren vor uns hindümpeln.
Sie kommen aus dem Stamm der Familie, der das süße Gebäck herstellt – das Unternehmen hat sich nach Jahren des Streits 1999 aufgespalten, Ihr Onkel übernahm die salzigen Snackprodukte, die heute unter Lorenz firmieren. Gibt es dort in der Generation ähnliche Projekte wie Ihres?
Ehrlich gesagt, ich kann Ihnen das nicht sagen, weil wir seit diesem Streit keine Beziehung zu dem Teil der Bahlsen-Familie haben. Dazu war das alles zu schlimm. Ich war damals vier Jahre alt. Ich weiß nicht mal, wie viele Cousins ich habe.
Wird man diesen Bruch nicht kitten können?
Ich hoffe, derzeit fehlt uns der Bezug dazu. Aber möglich ist es.
Das ist die neue Generation der Familienunternehmer
Junge Elite: Familienunternehmer

Anna Maria Braun, 39, B.Braun Melsungen, Vorstand: Seit Frühjahr 2018 leitet sie den Hersteller für Medizintechnik in sechster Generation.

Maximilian Viessmann, 29, Viessmann Group, Co-CEO: Er führt das Unternehmen in vierter Generation operativ. Dabei liegen ihm zwei Dinge besonders am Herzen: Die Etablierung einer zukunftsfähigen Unternehmenskultur und das Erschließen neuer Wachstumsfelder

Verena Bahlsen, 25, Hermann's/Bahlsen Group, Gründerin und Gesellschafterin: In Berlin hat die Urenkelin des Bahlsen-Firmengründers ein Forum für Food-Innovationen gegründet. Außerdem ist sie das jüngste von vier Kindern des heutigen Geschäftsführers der Keks-Dynastie Bahlsen - und beteiligt am Familienunternehmen.

Dominik Benner, 36, Benner Holding/Schuhe24, CEO: Aus dem Schuhgeschäft seines Vaters machte er eine moderne Schuhplattform, die gleichzeitig den Online- wie den stationären Handel bedient.

Viola Wüsthof, 36, Wüsthof, Geschäftsführerin: Der Messerhersteller Wüsthof wurde 1814 von Abraham Wüsthof gegründet. Heute leitet Viola Wüsthof das Unternehmen zusammen mit ihrem Cousin in siebter Generation.

Dr. Ernest-W. Droege, 33, Droege Gruppe, CEO: Im Frühjahr 2018 wurde er in den Vorstand berufen, und übernahm den Vorsitz von seinem Vater und Firmengründer Walter P. J. Droege.

Johanna Strunz, 32, Lamilux, Mitglied der Geschäftsführung, verantwortlich für den Bereich Business Development: Johanna Strunz ist die vierte Generation des Familienunternehmens. Derzeit wird es von ihren Eltern Dorothee und Heinrich Strunz geführt.

Matthias Lapp, 36, U.I. Lapp, CEO: Im Sommer 2017 gab Firmengründerin Ursula Ida Lapp ihre Funktion als Aufsichtsratsvorsitzende an ihren Sohn Andreas Lapp ab. Der wiederum reichte das Amt des CEO der U.I. Lapp GmbH an seinen Neffen Matthias Lapp weiter.

Anna Viegener, 35, Chief Strategy Officer, Viega