Wenn europäische Historiker einmal die Geschichte der 20er-Jahre dieses Jahrhunderts schreiben werden, dann ist nicht ausgeschlossen, dass der 15. Oktober 2023 darin einen wichtigen Platz einnehmen wird. Aller Voraussicht nach ist dies der Tag, an dem die in Polen seit acht Jahren regierende Partei, die sich Recht und Gerechtigkeit (PiS) nennt, ihre Macht eingebüßt hat. Man muss das noch sehr vorsichtig formulieren – da die Ergebnisse bisher noch vorläufig sind, aber auch, weil absehbar ist, dass die PiS versuchen wird, aus dem gemeinsam siegreichen Trio der Oppositionsparteien Abweichler herauszulösen. Das Spiel ist noch nicht vorbei. Aber die Nachwahlbefragungen lassen eine deutliche und stabile Mehrheit dieser vereinten Opposition erkennen, auch wenn die PiS formal stärkste Kraft wurde.
Historisch wäre dieser Machtwechsel nicht etwa deshalb, weil eine gesellschaftskonservative und in Teilen nationalistische Regierungspartei abgelöst würde, solche Parteien gibt es in vielen Staaten Europas. Die eigentliche Gefahr, die von der PiS ausging, war, dass sie methodisch und in voller Absicht die Axt an Grundpfeiler der Demokratie gelegt hat. An die Unabhängigkeit der Justiz, an die Freiheit der Medien und an die Fairness des Wahlprozesses. Die Regierung des nach Bevölkerung fünftgrößten Landes der EU reihte sich damit ein in eine wachsende Internationale der Illiberalen, die von Donald Trump über Viktor Orban zu Recep Tayyip Erdogan reicht.
Die Niederlage einer solchen Partei ist daher ein Sieg für alle Demokraten, gerade, wenn sie in einem großen und einflussreichen Land geschieht. Adam Michnik, Gründer der Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ und einst einer der großen Kämpfer gegen die kommunistische Unterdrückung, ordnete es schon am Wahlabend ein: Wieder einmal, wie schon 1989, wären es die Polen, die den Kampf um die Demokratie anführen, die als erste genug haben von deren schleichender Aushöhlung.
Wunder am Wahltag
Dass es allem Anschein nach zu diesem Ereignis gekommen ist, ist ein kleines Wunder. Das staatliche polnische Fernsehen hatte alles getan, um Oppositionsführer Donald Tusk im Wahlkampf von den Bildschirmen fernzuhalten und ihn zu diskreditieren. Zudem hatte die PiS dem Tag der Abstimmung ein absurdes und von vornherein folgenloses Referendum beigemischt, dessen einziges Ziel es war, Wähler mit fremdenfeindlichen und nationalistischen Ressentiments zu mobilisieren. Dem entgegen stand ein Aufstand des liberalen Bürgertums, der städtischen Bevölkerung, der im Ausland arbeitenden Polen – all derer, die sich die seit 1989 errungenen demokratischen Freiheiten nicht mehr nehmen lassen wollten. Sie strömten in solchen Massen zu den Urnen, dass die Wahlbeteiligung eine Rekordhöhe von fast 73 Prozent erreichte.
Für eine mögliche künftige Regierung unter Tusk aber liegt in dem jahrelangen Erfolg der PiS auch eine deutliche Warnung. Die Partei, das wurde auch in ihrem Abschneiden am Wahltag klar, hat ihre Macht nicht nur mit Tricks und Medienkontrolle gefestigt. Sie hat auch – gerade in ökonomischen Fragen – eine Politik betrieben, mit der sie die eher rückständigen Teile des Landes auf ihre Seite brachte. Den traditionell ärmeren Südosten und Osten Polens, aber auch die ländlichen Gebiete schlechthin. Wenn man vom Corona-Jahr 2020 absieht, so erlebte die polnische Wirtschaft unter der PiS eine beeindruckende Erfolgsgeschichte, mit Wachstumsraten zwischen vier und sechs Prozent.
Soziale Wohltäter
Dieses Wachstum aber kam nicht nur in den boomenden Städten an, sondern auch in der Provinz, in der Straßen und Häuser heute zum Teil besser aussehen als in strukturschwachen Gebieten Deutschlands. Grundlage waren Gelder aus EU-Töpfen. Vor allem aber sorgte eine Umverteilung durch die PiS für satte Geldströme. Die Partei führte ein großzügiges Kindergeld ein, das Familien zugute kam, sie verdoppelte den Mindestlohn und senkte die Steuerlast bei niedrigeren Einkommen.
Dieses umfangreiche Sozialprogramm bremste die polnische Wirtschaft nur wenig, aber es brachte Wohlstand und Zustimmung in großen Teilen der Bevölkerung mit sich. Es gab sogar Stimmen in der PiS, die am Wahlabend fragten, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, diese ökonomische Entwicklung in den Mittelpunkt des Wahlkampfes zu stellen – anstatt sich in kulturelles Gezänk, Deutschlandfeindlichkeit und Verschwörungstheorien zu verstricken.
Dilemma für Tusk
Für Tusk und seine mögliche Koalition liegt darin ein Problem: Will er die demokratischen Spielregeln im Land wieder festigen, dann wird er nicht darum herumkommen, die Sozialpolitik seiner Vorgänger fortzuführen, ja vielleicht sogar auszubauen. Eine Regierung, die von Umverteilung Abstand nimmt und sich wieder darauf konzentriert, die reinen Marktkräfte zu fördern, wird vielleicht den Applaus der Metropolen bekommen, aber in der Provinz auf Ablehnung stoßen. Und nicht bei jeder Wahl lässt sich das besser verdienende, liberale Bürgertum in solchem Umfang mobilisieren wie bei dieser.
Zugleich aber würde Tusk in eine Zeit hineinregieren, die schwieriger ist als die Boom-Jahre nach dem Corona-Einbruch. Schon für das laufende Jahr wird für Polen nur ein maues Wirtschaftswachstum von unter einem Prozent vorhergesagt. Zu allem Überfluss hängt Polen in hohem Maße vom Schicksal der deutschen Volkswirtschaft ab, die in der Rezession ist und auch im kommenden Jahr eher anämisch zulegen wird. Deutschland ist mit Abstand der wichtigste Handelspartner, deutsche Mittelständler und Großkonzerne tragen Millionen polnischer Jobs. Wenn es diesen Unternehmen schlecht geht, dann ist das auch für das Nachbarland kein gutes Signal.
Es wird also, zumindest kurzfristig, in Polen weniger zum Umverteilen geben, ein Umstand, der die Stimmung rasch gegen eine mögliche kommende Regierung wenden könnte. Tusk hat einen eminent wichtigen Sieg errungen. Die eigentliche Arbeit aber beginnt erst jetzt.